Winsen. Mehr als 1600 Geflüchtete müssen in den nächsten Monaten untergebracht werden – Landkreis Harburg muss schnell mehr Containeranlagen bauen
Allein nach Niedersachsen werden nach Prognosen des Landes im Zeitraum von April bis September rund 17.000 Geflüchtete kommen (das Abendblatt berichtete) – und deshalb spitzt sich auch im Landkreis Harburg die Flüchtlingslage zu. Denn der Landkreis ist mit 1680 zugeteilten Geflüchteten im kommenden Halbjahr der Kreis mit der höchsten Zuteilungsquote im Land. Das bedeutet, dass der Landkreis Harburg neben 825 Plätzen in bereits in Bau befindlichen oder fest geplanten Unterkünften in kurzer Zeit 900 weitere Plätze allein in Form von Containeranlagen schaffen muss – wo und wie steht noch in den Sternen.
Mit einem Hintergrundgespräch zur aktuellen Flüchtlingslage hat der Landkreis Harburg jetzt auf diese Zahlen des Niedersächsischen Innenministeriums reagiert. Und dabei wurde auch nicht mit Kritik am Land gespart. Denn das Niedersächsische Innenministerium bestimmt halbjährlich, wie ausländische Staatsangehörige in Niedersachsen verteilt werden und setzt für alle Landkreise und kreisfreien Städte Aufnahmequoten fest. Zentraler Verteilungsmaßstab ist die Einwohnerzahl. Außerdem erfolgt eine Verrechnung mit über- beziehungsweise untererfüllten Quoten aus dem vorherigen Verteilungskontingent. Die aktuellen Zahlen mit einer Zuweisung von 1680 Flüchtlingen für den Landkreis Harburg bis September gehen aus den Berechnungen des Landesinnenministeriums mit dem Stichtag 1. April 2023 hervor.
Prognosen bereiten den zuständigen Akteuren beim Landkreis Harburg große Sorgen
Diese Prognosen bereiten den zuständigen Akteuren beim Landkreis Harburg große Sorgen, denn die Aufnahme der geflüchteten Menschen von der Registrierung bis zur Unterbringung gestaltet sich zunehmend schwieriger. „In einem Vergleichszeitraum von zehn Jahren ist im Jahr 2022 bundesweit die dritthöchste Zahl von Asylanträgen zu verzeichnen gewesen“, sagte Michael Kröger, Abteilungsleiter Migration beim Landkreis, bei einem Gespräch im Winsener Kreishaus. Und diese Entwicklung setze sich fort – auch im Landkreis Harburg: „Noch haben wir nicht die Zahlen der ,Top-Jahre’ 2015/16 erreicht, aber wenn es in diesem Jahr so weiter geht, werden wir die Zahl von 2015 mit über 470.000 Asylanträgen erreichen oder überschreiten“, so Kröger.
Eine bundesweite Zahl mache den Anstieg besonders deutlich: So seien im bisherigen Berichtsjahr 2023 genau 80.978 Erstanträge auf Asyl vom Bundesamt entgegengenommen worden. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 44.908 Erstanträge gestellt. „Dies bedeutet eine Zunahme der Antragszahlen um 80,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr“, so Kröger.
Weltflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, der Türkei, dem Irak und afrikanischen Staaten
Dabei handelt es sich ausschließlich um sogenannte Weltflüchtlinge vor allem aus Syrien, Afghanistan, der Türkei, dem Irak und afrikanischen Staaten, denn die Geflüchteten aus der Ukraine müssen keinen Asylantrag stellen, sondern erhalten ein sofortiges Aufenthaltsrecht.
Im vergangenen Jahr hat der Landkreis 1143 sogenannte Weltflüchtlinge aufgenommen und 3429 Personen aus der Ukraine. Wenn nun also in lediglich einem halben Jahr 1680 Weltflüchtlinge im Landkreis Harburg aufgenommen werden müssen, wird die große Herausforderung für die zuständige Kreisverwaltung mehr als deutlich.
Von Januar bis April 2023 wurden 384 Weltflüchtlinge zugewiesen
Die niedersächsische Landesaufnahmebehörde hat die Zuweisungspraxis für den Landkreis Harburg seit Herbst 2020 aufgrund wachsender Zahlen kontinuierlich gesteigert – von 20 Personen auf bis zu 62 Zuweisungen pro Woche.
Von Januar bis April 2023 wurden 384 Weltflüchtlinge in den Landkreis Harburg zugewiesen. In der vergangenen und in der laufenden Woche hat der Landkreis 40 Weltflüchtlinge zugewiesen bekommen. Ab der kommenden Woche sollen dem Landkreis dann wöchentlich bis zu 62 Flüchtlinge zugewiesen werden. Das Land hat diese Zahl nach Intervention des Landkreises von zuvor 71 um neun reduziert.
Größte Aufgabe für den Landkreis: Unterbringungsmöglichkeiten schaffen
„Die Zahlen des Landkreises stimmten in der Vergangenheit oftmals nicht mit denen des Landes überein“, so Reiner Kaminski, Bereichsleiter Soziales beim Landkreis. Falsche Zahlen zum Erfüllungsgrad seien beim Land erst nach mehrfacher Intervention korrigiert worden. Die größte Aufgabe für den Landkreis ist es nun, weitere Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. „Im Moment haben wir bei der aktuellen Zuweisung nur bis Ende Juli ausreichend Plätze“, so Kaminski. In Bau oder in Abstimmung befinden sich bereits zwei Möglichkeiten in Buchholz (An Boerns Soll, Innungsstraße) mit 60 und 105 neuen Plätzen, im Marktplatzzentrum in Neu Wulmstorf (60 zusätzliche Plätze für Weltflüchtlinge), in Gödenstorf (30 zusätzliche Plätze), Eyendorf (plus 30), am Küstergarten in Seevetal (130), Bahnhof Ashausen (90), Tostedt (Am Blocksberg, 60).
Die Erweiterung der Unterkunft am Scharmbecker Weg in Winsen um 60 Plätze auf insgesamt 180 ist kürzlich abgeschlossen. Die Unterkunft ist bereits bezogen worden. Darüber hinaus sollen weitere 900 Plätze in neuen Containeranlagen entstehen. Wo das sein wird, ist noch unklar. In Absprache mit den Gemeinden will der Landkreis außerdem noch 330 Plätze von den Gemeinden übernehmen.
„Die Geflüchteten werden aus der Landesbehörde einfach losgeschickt“
Aber nicht nur die Unterbringung der geflüchteten Menschen stellt den Landkreis vor große Schwierigkeiten. Hinzu kommt die mangelnde Abstimmung mit dem Land. „Die Geflüchteten werden aus der Landesbehörde einfach losgeschickt“, so Kaminski. „Wann und wie die Menschen zu uns kommen, ist vollkommen unsicher.“ Das erschwere die ausländerrechtliche Bearbeitung beim Landkreis und die Verteilung der Menschen auf die Unterkünfte. „Wir würden vorab gern wissen, wer zu uns kommt, um eine angemessene Verteilung auf die Unterkünfte zu gewährleisten“, sagte Kaminski. „Es ist wichtig zu wissen, ob eine Familie kommt oder weibliche Flüchtlinge, welche Sprache sie sprechen oder welcher Religionszugehörigkeit sie sind.“
Die Unterbringung gehe auch nicht von einem Tag auf den anderen: „Der Landkreis benötigt einen größeren Planungszeitraum“, so Kaminski. Acht bis neun Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen plus zwei Fahrer seien beim Landkreis ausschließlich mit dem Zuweisungsmanagement beschäftigt.
Fachbereichsleiter beklagt die finanzielle Ausstattung der Kommunen
Der Fachbereichsleiter beklagte zudem die finanzielle Ausstattung der Kommunen bei der Flüchtlingsaufgabe: „Darüber beschweren sich alle Bürgermeister und Landräte. Beim Landkreis bleibt ein Delta von über 10 Millionen Euro für die Flüchtlingsunterbringung.“ Gleichzeitig nehme das Verständnis in der Bevölkerung ab, wenn etwa Sporthallen in Anspruch genommen werden müssten. So wie die Sporthalle der Berufsbildenden Schule Winsen (BBS Winsen), die nun auch wieder belegt werden müsse. Mit den Gemeinden im Landkreis befinde sich die Kreisverwaltung dagegen in gutem Austausch, so Kaminski. „Es bestehen allerdings auf beiden Seiten Schwierigkeiten, Grundstücke für die Flüchtlingsunterbringung zu finden und so zu planen, dass es einigermaßen vertretbar ist.“
Bei den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine hat das Land Niedersachsen seine Quote übererfüllt, der Landkreis Harburg darf zurzeit niemanden mehr aus dieser Gruppe aufnehmen. „Da kann es sein, dass eine ukrainische Familie hier vorm Kreishaus steht und wir müssen sie weiterschicken nach Freiburg im Breisgau“, sagte Michael Kröger. Ihr Schicksal hänge dann an einer bundesweiten Registrierungsplattform für ukrainische Flüchtlinge, auf die der Landkreis keine Einwirkungsmöglichkeiten habe.