Lüneburg. Lüneburger Anlaufstelle öffnet seit 40 Jahren ihre Türen für Menschen in Lebenskrisen – eine Erfolgsgeschichte
Zum Kaffee sagt hier niemand nein. Zwar sind die vier an diesem Nachmittag hergekommen, um gemeinsam etwas zu spielen, zu malen oder auch zu filzen – aber einen Kaffee, den trinken sie alle gern. Ob nebenbei oder für den typischen Plausch, der beim gemeinsamen Kaffeetrinken fast wie von selbst entsteht. Denn auch dafür sind die vier heute hier: um sich mit jemandem zu unterhalten. Im Lüneburger Stövchen.
Handarbeit, Tischtennis, Lesen, Gestalten, Yoga, Spielen, Singen: Das Angebot hier ist breitgefächert, und zusätzlich gibt es Gruppen nur für Frauen genauso wie Gruppen nur für Männer. Hier, das ist das Stövchen an der Heiligengeiststraße. Seit 1983 Beratungs- und Anlaufstelle für Menschen in Lebenskrisen. „Hier kann jeder hineinkommen und Freizeit verbringen“, sagt Sozialarbeiterin Kerstin Möller. „Ohne Anmeldung, ohne Verpflichtung. Und trotzdem entsteht mit der Zeit eine für alle angenehme Regelmäßigkeit.“
„Ich würde mich sonst sehr zurückziehen, gerade nach dem Tod meines Mannes.“
So wie bei Petra Zabel. 2019 kam die gelernte Fachverkäuferin das erste Mal her, gemeinsam mit einer Mitarbeiterin des Ambulanten Psychiatrischen Pflegedienstes. Nach einer längeren Pause war es der Anruf der Sozialarbeiterin aus dem Stövchen, der sie zurückholte in die Heiligengeiststraße. Es ging um die Corona-Impfung, „Ich bin noch heute froh, dass sie mich angerufen hat“, sagt Zabel. Denn dieses Mal blieb sie. Und seit 2021 nicht nur als Gast, sondern auch als Ehrenamtliche, drei Mal pro Woche hilft sie im Cafébereich und bei allem, was sonst noch anfällt. Und am vierten Tag kommt sie zur Spielegruppe. „Ich freue mich jedes Mal darauf“, sagt die 59-Jährige und nimmt einen Schluck Kaffee. „Ich würde mich sonst sehr zurückziehen, gerade nach dem Tod meines Mannes. Ich bin froh, dass hier etwas zu tun habe und mit Menschen in Kontakt komme.“
Vor kurzem hat sie mit dem Stövchen zusammen einen Ausflug ins Hamburger Planetarium gemacht. „Auf die Idee wäre ich allein nie gekommen.“ So viele Ängste hätten sie umgetrieben bei der Vorstellung, allein in die Großstadt zu fahren. So geht das vielen, die im Stövchen ihre Freizeit verbringen. Es ist nicht nur so, dass die meisten sich Fahrten wie die ins Planetarium ansonsten gar nicht leisten könnten – die Eigenbeteiligung liegt bei höchstens fünf Euro. Es ist vor allem auch das Organisieren, das Planen, das Sich-Zutrauen, das fehlt. Alle 14 Tage steht daher am Sonnabend ein Angebot auf dem Programm, ob Kino oder Städtetrip, Spaziergang oder Fahrradtour. Dass es nicht schlimm ist, wenn sie nicht sofort „juhu“ ruft, wenn es um einen Ausflug nach Hamburg geht, sondern eine Hand braucht, die die ihre nimmt – und sei es nur durch einen Anruf, eine Nachfrage, einen winzigen Stupser: Das tut Petra Zabel gut. „Hier werde ich als Mensch angenommen, wie ich bin“, sagt sie. „Ich werde akzeptiert.“
„Ich bin froh, dass ich das Stövchen gefunden habe!“
„Und zwar ohne Wenn und Aber.“ Das sagt Anke Johanning. Die 53-Jährige ist zum Weihnachtsfrühstück im vergangenen Jahr das erste Mal hier gewesen, als die Psychologin in der Tagesklinik der Psychiatrischen Klinik ihr den Tipp gab, dass es hier Freizeitangebote gebe. „Ich lebe seit kurzem das erste Mal im Leben allein“, erzählt sie. „Ich brauchte etwas für meine freie Zeit. Ich bin gern kreativ, habe immer schon gern gebastelt. Hier habe ich filzen und stoffmalen gelernt. Ich bin froh, dass ich das Stövchen gefunden habe, ich freue mich schon aufs Töpfern im Garten, wenn der Frühling kommt. Und sobald meine Zeit in der Tagesklinik vorbei ist und ich mehr Zeit habe, möchte ich noch die Nähgruppe ausprobieren.“
Wer Christian Preuß fragt, seit wann er ins Stövchen kommt, bekommt eine klare Antwort: „Seit dem 14. Dezember 2006.“ Denn an diesem Tag entschied der 50-Jährige bei einem Spaziergang durch die Innenstadt, dass er sie öffnet, diese Tür, neben der das Schild „Stövchen“ hängt. Und dann? „Dann waren hier nette Leute, und ich habe eine Entscheidung getroffen: dass ich wiederkehre, wenn man malen oder spielen kann.“ Mittlerweile kommt der 50-Jährige am liebsten zum Singen und Malen ins Stövchen. „Man kann abschalten, man grübelt sonst so viel“, erklärt er. „Hier kann ich etwas Gutes malen, das tut mir innerlich gut.“ Und der vierte in der heutigen Kaffeerunde? Das ist Norbert Penz. Der gelernte Maurer konnte nach zwei Bandscheibenvorfällen nicht mehr in seinem Beruf arbeiten, nach 20 Jahren bei der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg und einigen Jahren Arbeitslosigkeit ist er jetzt bei Hipsy angestellt, einer Einrichtung für psychisch Erkrankte in Buchholz/Nordheide. „Ich bin gern für Menschen da, die irgendwelche Handicaps haben“, sagt der 57-Jährige, seit 31 Jahren trocken. „Ich habe ja schließlich auch welche – ich weiß bloß noch nicht, welche genau.“ Er lacht.
„Die Sozialarbeiterinnen reißen sich fast die Flügel aus“
Hier, ins Stövchen, kommt er gern nach der Arbeit. Auf einen Kaffee, auf einen Plausch. „Hier bin ich nicht allein, sondern unter Meinesgleichen. Ich gehe zur Männergruppe, weil die erst um 17 Uhr beginnt.“
„Und mit schwimmen wolltest du anfangen“, sagt Petra Zabel und pufft ihn lächelnd in den Arm. Zabel betreut nämlich die Schwimmgruppe. Und dass Norbert auch endlich einmal mitkommt, ist ihr wichtig. „Jaaa, mache ich ja“, lautet die Reaktion ihres Stövchen-Freundes. „Das muss ich auch, wegen meines Rückens.“ Gemeinsam geschwommen wird mittwochsabends im Sportbad des SaLü.
„Ich komme wirklich gern her, denn hier sind Menschen, die nicht so engstirnig sind“, sagt Norbert Penz. „Und wenn man selbst Hilfe braucht, bekommt man die auch. Die Sozialarbeiterinnen reißen sich fast die Flügel aus.“ Ein Kumpel hatte ihn vor Jahren auf die Idee gebracht, doch mal mitzukommen dorthin, wo jener selbst schon lange hinging. „Ich kann das jedem nur empfehlen, der ansonsten einsam wäre. Bei mir zu Hause würde sonst nur die Flimmerkiste laufen. Da bin ich überflüssig. Wenn ich hier zur Tür reinkomme, sagt immer jemand: Hallo Norbert! Schön, dass du da bist.“ Der Fernseher sagt so etwas nicht. Und eine Flasche Bier würde es auch nicht sagen.