Hittfeld. Protest gegen geplante Bahnstrecke Hamburg–Hannover: Familie aus dem Landkreis Harburg erzählt, was die Trasse für sie bedeuten würde.
Sollte die Bahn eine neue ICE- und Gütertrasse von Hamburg nach Hannover durch den Landkreis Harburg bauen, bleiben Menschen und Betriebe, Dörfer und wertvolle Naturräume auf der Strecke. Die Sorge der Betroffenen, die in diesem Korridor leben, ist groß. Werden sie ihre Häuser verlieren? Eines Tages an einem 20 Meter hohen Bahndamm wohnen? Werden sie ihre Felder nicht mehr erreichen können und ihre Dörfer inselartig eingeschlossen sein? Das Abendblatt hat Betroffene an der Strecke besucht und sie gefragt, was die Trasse für sie bedeutet.
Teil 8: Maren, Sören und Bernd Heling aus Hittfeld
Er würde das Projekt mit dem Wissen von heute nicht mehr bauen, hat Bahn-Chef Richard Lutz vor ein paar Jahren über das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 gesagt. Da waren bereits mehr als sechs Milliarden Euro in den Ausbau des Bahnhofs geflossen. Inzwischen hat sich die Summe von den ursprünglich geplanten 4,5 Milliarden auf 9,15 Milliarden Euro erhöht. Würde man diese Summe mit 500-Euro-Scheinen aufstapeln, wäre der Geldstapel rund 2000 Meter hoch.
Das Bahnprojekt hatte damals wegen seiner massiven Proteste und ihrer gewaltsamen Beendung bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Ebenso die Volksabstimmung, die anschließend folgte – und zugunsten des Projekts ausfiel. Die direkte Demokratie hatte einen befriedenden Effekt. Sie sorgte dafür, dass die Menschen mitbestimmen konnten.
Sechs Jahre wurde geplant, die Anwohner informierte niemand
Mitbestimmung. Darum geht es auch Maren Heling aus Hittfeld. Dass bei großen Projekten der Deutschen Bahn die Betroffenen, Anwohner, Kommunen und Politik eingebunden werden. Und man gemeinsam eine Lösung erarbeitet, die von der Mehrheit getragen wird. Weil alles andere Unmut schaffe, zu Protest führe und undemokratisch sei.
Maren Heling erlebt gerade genau das: Wie es sich anfühlt, wenn Demokratie ausgehebelt, ein gemeinsam gefundener Konsens einfach ignoriert wird. Sie wohnt mit Mann, Sohn und zwei Hunden in der Gemeinde Seevetal, in einem Reihenhaus in der Ortschaft Hittfeld. Bis zum Feldrand sind es nur ein paar Schritte. Und genau dort möchte die Bahn eine neue ICE-Schnelltrasse von Hamburg nach Hannover bauen. Sechs Jahre wurde geplant – ohne dass die Anwohner davon wussten. Keiner hatte sie informiert.
Am Ende stand ein Kompromiss: ein Ausbau der Strecke entlang der Bestandsstrecke
Dabei ist der Ausbau der sogenannten Y-Trasse seit Jahrzehnten umstrittenes Thema in der Region, wurde 2015 eingestampft – zu groß war der Widerstand in Niedersachsen. Nicht noch einmal sollte ein Bahnprojekt so eskalieren wie damals Stuttgart 21. Also starteten Landespolitiker, Bürgermeister, Vertreter von Bahn und Bürgerinitiativen ein gemeinsames Dialogforum. Zehn Monate verhandelten sie. Am Ende stand ein Kompromiss: ein Ausbau der Strecke entlang der Bestandsstrecke mit übergesetzlichem Lärmschutz: das Projekt „Alpha-E“.
„Für uns war das Thema damit geklärt“, sagt Maren Heling. Nicht aber für Bund und Bahn. Denn die planten im Hintergrund nicht mit Alpha-E, sondern mit der ursprünglichen Neubaustrecke. Und genau das sickerte erst im vergangenen Jahr durch. Die Nachricht traf Maren, Bernd und Sören Heling wie der Blitz. Denn die Familie wäre unmittelbar von der Trasse betroffen. „Diese soll auf einem 25 Meter hohen Damm etwa 100 Meter vor unserer Haustür verlaufen“, sagt Maren Heling. „Wir schauen dann gegen eine Wand. Und alle acht Minuten rauscht ein ICE vorbei.“
Die Backsteinbauten wirken in der Simulation wie Spielzeughäuser
Auf einem Foto der Reihenhaussiedlung wird die Trasse simuliert. Die Backsteinbauten aus den 1970er Jahren wirken vor dem gewaltigen Bahndamm wie Spielzeughäuser. „Das wird ein riesiges Bauwerk“, sagt die Hittfelderin. „Wofür? Nur damit die Fahrzeit sich um ein paar Minuten verkürzt?“ Das sei doch absoluter Unsinn. „Selbst wenn die Strecke zehn Minuten Fahrzeit einsparen würde – was haben die Fahrgäste davon, wenn sie nicht einmal pünktlich zum Bahnhof kommen, weil die Regionalzüge verspätet sind oder ganz ausfallen?“
Die Prokuristin eines großen regionalen Gebäudereinigers kann nicht nachvollziehen, wozu Deutschland diese Megatrasse brauche und warum es nicht auch anders gehen könne. „Für den Personenverkehr?“ Der könne doch weiterhin über die bestehende Trasse laufen. „Für den Güterverkehr?“ Der wachse doch nicht mehr. Sie fragt sich, ob die Prognosen und Zahlen, die der Planung 2016 zugrunde lagen, heute überhaupt noch angewendet werden können. „Es hat sich doch vieles seitdem verändert“, sagt Maren Heling. Corona, Homeoffice, der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise – die Umstände seien heute völlig anders.
Schon jetzt investiert die Familie nichts mehr in ihr Heim
Gern würde sie ihre Fragen mit den Verantwortlichen klären. Mit Bahn und Bund über das Thema sprechen. „Aber uns sagt hier keiner was“, sagt sie. „Man lässt uns im Unklaren. Greifbare Fakten gibt es nicht.“ Also wird im Ort wild spekuliert. Es werden Bahn-Pläne herumgereicht, Protestveranstaltungen organisiert und Klagen vorbereitet, für den Fall, dass der Bundestag die Pläne für die Neubaustrecke verabschiedet.
Maren Heling, die sich in der örtlichen Bürgerinitiative engagiert, weiß genau, wie sehr es unter der scheinbar friedlichen Oberfläche in der Gemeinde brodelt. Sie ist gut vernetzt in Hittfeld, hat viele Freunde, gute Bekannte. „Meine Eltern haben hier das Gasthaus ‚Zur Linde‘ betrieben, das heute mein Bruder führt“, sagt sie. „Dort bin ich aufgewachsen. Ich kenne hier viele Menschen. Und ich weiß, dass sie sich ihre Heimat nicht weiter kaputtmachen lassen werden.“ Die Gemeinde habe schon genug einstecken müssen. „Wir werden von drei Autobahnen gekreuzt, haben in Maschen den zweitgrößten Containerbahnhof der Welt“, sagt sie. „Und jetzt soll noch eine Neubautrasse hinzukommen, auf der die ICEs mit 300 km/h durch das Gebiet rauschen?“
Für die Familie ist klar, dass sie ihr Haus aufgeben werden, sollte die Bahn kommen. Schon jetzt haben sie alle geplanten Investitionen auf Eis gelegt. Wohin sie dann ziehen wollen? Maren Heling zuckt mit den Schultern, schaut in den 800 Quadratmeter großen Garten. „Eigentlich war das hier das perfekte Zuhause für uns“, sagt sie. „So etwas wie hier finden wir nicht noch einmal.“