Landkreis Harburg. Zum „Tag der Kriminalitätsopfer“ gibt der Weisse Ring Opfern von Gewalt eine Stimme. Was die Betroffenen erlebt haben.
Sie will den Opfern eine Stimme geben. Frauen und Männern, die Gewalt erfahren haben, ermutigen, das Schweigen zu brechen und sich Hilfe zu holen. Dafür ist Vera Theelen seit Jahren aktiv, engagiert sich ehrenamtlich in der Opferhilfe. Jetzt hat die Leiterin der Außenstelle des Weissen Rings im Landkreis Harburg eine neue, große Aktion gestartet. Zum „Tag der Kriminalitätsopfer“ am heutigen Mittwoch hat sie neun Betroffene gebeten, ihr Schweigen zu brechen – und öffentlich zu erzählen, was sie getan haben, um aus der Schocksituation herauszukommen.
„Die Berichte sollen Opfern von Kriminalität Mut machen, sich Hilfe zu holen“, sagt Vera Theelen. „Sie sollen Betroffene motivieren und deutlich machen, dass es wichtig ist, in schwierigen Situationen aktiv zu werden und nicht allein zu bleiben.“
Die Antworten sind so vielfältig wie die Gewalterfahrungen
Die Aktion mit dem Titel „Wir geben Opfern eine Stimme“ diene nicht dazu, die Taten an sich in den Fokus zu rücken. Vielmehr gehe es darum zu erfahren, wo die Betroffenen Hilfe gefunden hätten. „Welche Gedanken hatten sie, als sie die Tat zum ersten Mal realisierten?“, will Theelen wissen. „Was hat ihnen konkret geholfen?“ Und: „Was ist ihr wichtigster Rat an Opfer von Straftaten?“
Die Antworten sind so vielfältig wie die schrecklichen Gewalterfahrungen, die die Betroffenen, mit denen Thelen gesprochen hat, durchgemacht haben. Eine junge Frau, 22 Jahre alt, Opfer einer schweren Körperverletzung, berichtet von Todesangst und davon, wie ihr der Verlust von Sicherheit den Boden unter den Füßen weggezogen habe. „Ich habe umgehend die Nachbarn kontaktiert“, erzählt sie. „Hier habe ich sofort Schutz bekommen.“ Geholfen habe ihr, darüber zu reden, sich mitzuteilen. „Ich habe mit psychologischer Begleitung gelernt, mit meiner Angst umzugehen“, sagt sie.
Eine 32-Jährige versuchte, das Erlebte zu verdrängen
Eine 24-Jährige, die Opfer eines Einbruchs geworden ist, berichtet über das große Unwohlsein, das die Tat bei ihr ausgelöst hat: „Am schlimmsten an der Tat war die Realisierung, dass jemand in meine Privatsphäre eingegriffen hat und meine Sachen in der Hand hatte.“ Geholfen habe ihr, die Spuren des Täters zu beseitigen und dadurch wieder Kontrolle über die Situation zu erhalten. „Sprecht mit anderen über die Tat, über die eigenen Gefühle und Gedanken“, so ihr Rat.
Eine 32-Jährige, Opfer häuslicher Gewalt berichtet, sie habe versucht, alles zu verdrängen. Anschließend habe sie sich Hilfe bei der Diakonie und dem Weißen Ring geholt. Geholfen hätten ihr vielfache Besuche von Freunden und Familien. „Durch meine Offenheit habe ich viel Stärke gewonnen“, sagt sie. Ihr Tipp: „Nicht verstecken, offen reden, Vertrauenspersonen einbinden und auf jeden Fall zur Polizei gehen.“
Die Ehrenamtlichen begleiten die Opfer auch zu Gerichtsterminen
Sich so früh wie möglich Hilfe zu holen, empfiehlt ein 41-jähriges Opfer eines versuchten Tötungsdelikts: „Dann besteht schon in der frühen Phase Klarheit über das weitere Vorgehen, man ist nicht allein, und egal, was kommt, einem wird geholfen.“ Genau das, wollen die vielen Ehrenamtlichen, die sich beim Weissen Ring für Opfer von Kriminalität engagieren: helfen, Beistand leisten, Sicherheit schaffen und persönlich unterstützen. Rund 2800 Ehrenamtliche stehen deutschlandweit den Geschädigten zur Seite. Bundesweit hat der Verein rund 400 Außenstellen in 18 Landesverbänden. Eine dieser Außenstellen liegt im Landkreis Harburg.
Deren Leiterin Vera Theelen, ihrem Stellvertreter Micheal Kropp und den 19 ehrenamtlichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern geht es nicht nur darum, Betroffenen von Straftaten beizustehen, sondern ihnen auch im Umgang mit Behörden zu helfen, zu Gerichtsterminen zu begleiten und Hilfen anderer Stellen zu vermitteln. „Oftmals sind die Menschen mit der gesamten Situation überfordert und dankbar für die Wege, die ihnen aufgezeigt werden“, sagt Vera Theelen. „Sei es ein Arzt-, ein Behördenbesuch oder der begleitende Gang zur Polizei oder zum Gericht.“
Manchmal reiche bereits ein offenes Ohr und respektvolle Zuwendung
Das gebe dem Hilfesuchenden ein Gefühl der Sicherheit. Manchmal reiche aber bereits ein offenes Ohr und respektvolle Zuwendung, um wieder zuversichtlich durchs Leben zu gehen. „In anderen Fällen sorgen wir für eine materielle Überbrückung, wenn durch die Tat eine finanzielle Notlage entstanden ist. Wir kennen die Rechte der Opfer genau und wissen, welche Leistungen möglich sind. Wir sind gut vernetzt und vermitteln schnell und direkt den Zugang zu Experten wie Juristen und Psychologen“, so Theelen.
Wie groß der Bedarf ist, zeigen die Zahlen. So wandten sich im vergangenen Jahr 111 Opfer von Straftaten an die Außenstelle des Weissen Rings. Die überwiegende Mehrheit der Hilfesuchenden (87) waren weiblich. Bei den Straftaten gegenüber Frauen handelte es sich insbesondere um Sexualdelikte und Stalking, bei den Männern waren es Körperverletzungsdelikte. Das Durchschnittsalter der Betroffenen lag bei 39 Jahren. Das jüngste Opfer war zwei, das älteste 88 Jahre alt.
Ziel ist nicht nur Opferhilfe – sondern auch Prävention
„Die wichtigste Unterstützung, die wir leisten können, ist das persönliche Gespräch“, sagt Michael Kropp. „Dem Opfer glauben, zuhören, es zum aktiven Handeln zu bewegen, das ist das vorrangige Ziel.“ Der Weisse Ring leiste weder anwaltliche noch psychologische Beratung. Durch seine Lotsenfunktion verweise die Organisation jedoch an Rechtsanwälte, Psychologen und Trauma-Ambulanzen.
Ziel des Weissen Rings sei aber nicht nur die Opferhilfe, sondern auch die Prävention. „Es ist immer besser, wenn Menschen nicht erst zu Opfern werden“, sagt Vera Theelen. Das bedeute, proaktiv auf die mögliche Zielgruppen der Straftäter zuzugehen. Darüber hinaus soll die Bevölkerung durch Gespräche und Öffentlichkeitsarbeit für denkbare Gefährdungen sensibilisiert werden. Zu diesem Zwecke macht der Weisse Ring seit 1991 mit dem „Tag der Kriminalitätsopfer“ am 22. März auf Menschen aufmerksam, die durch Kriminalität und Gewalt geschädigt wurden.
Eine Mutter befürchtete den Missbrauch der eigenen Tochter
Mit der Aktion „Mach Dich laut! Such Dir Hilfe! Nimm sie an!“ leistet Vera Theelen ihren eigenen Beitrag, damit das Thema in der Öffentlichkeit mehr Beachtung findet – indem sie die Opfer selbst sprechen lässt.
So wie eine 39 Jahre alte Mutter, die nach dem Verdacht auf Missbrauch ihres Kindes alles in ihrer Macht stehende tat, um Hilfe zu bekommen. „Ich habe Polizei, Rechtsanwältin, Kindergarten und Weisser Ring ins Boot geholt“, erzählt sie. „Die menschliche Unterstützung und das Verständnis aller beteiligten Hilfspersonen waren da, das hat mir Kraft gegeben.“ Ihre Botschaft an alle, die ähnliche Erfahrungen machen müssen, ist deutlich: „Kommt aus auch heraus.“ Und: „Versteckt euch nicht!“