Landkreis Stade/Kiew. Vater, Beschützer, Helfer in der Not: Wie der Ukrainer Grischa Kaflovskiy die vergangenen zwölf Monate erlebte. Und was er alles organisierte.
Grischa Kaflovskiy war schon vieles in seinem Leben: Student, Soldat, Dolmetscher, erfolgreicher Geschäftsmann. Und was ist der Ukrainer nun? Nach einem Jahr Krieg in seinem Heimatland. Nach zwölf Monaten, die sein Leben und das seiner Familie komplett verändert haben. Sie auseinanderrissen. Ein Jahr, in dem der 65-Jährige sich neu orientieren musste und in dem die Sorgen um Sohn und Tochter im Krieg ihn stets begleiteten. 365 Tage, in denen Grischa jeden Tag mit den Gedanken an seine Kinder und sein Land aufwachte. Und in denen er zu dem wurde, was er heute ist: Ein Helfer in der Not und ein Brückenbauer zwischen den Menschen in der Region und in seiner bedrohten Heimat.
Ehemaliger Oberstleutnant hatte den russischen Angriff erwartet
Man könnte schreiben, der 24. Februar 2022 habe das Leben von Grischa Kaflovskiy von einem auf den anderen Tag komplett verändert. Aber das stimmt so nicht. Auch aufgrund seiner exzellenten Kontakte in die ukrainische Armee hatte der ehemaligen Oberstleutnant den russischen Angriff auf sein Land erwartet. Zudem hatten am Vorabend russische Separatisten in den ukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk Russland um Hilfe gebeten.
Kaum jemand in der Ukraine zweifelte noch daran, dass Putin dies als Begründung für seinen völkerrechtswidrigen Angriff auf das Nachbarland verwenden würde. „Der Krieg war keine Überraschung für uns“, sagt Kaflovskiy bei einem Telefonat, das er aus Kiew führt. Denn dort ist er wieder gewesen, um Hilfsgüter in sein Heimatland zu bringen.
Sohn Sascha bringt seine Kinder schon in Uniform zu den Eltern
In seiner Heimatstadt sind die Erinnerungen an den Tag der russischen Invasion allgegenwärtig: An die ersten Explosionen gegen 5 Uhr morgens. Wie sein Sohn Sascha ihn bittet, seine beiden Kinder in Sicherheit zu bringen und dabei bereits in Uniform vor den Eltern steht. Eigentlich ist der 43-Jährige, der in Hannover Betriebswirtschaftslehre studiert hat, ein Geschäftsmann. Doch nun will Sascha Kiew verteidigen. „Putin hatte angekündigt, die Stadt in drei Tagen zu erobern“, sagt Kaflovskiy. „Für den Abschied von meinem Sohn blieben nur wenige Minuten.“
Tochter Marjana meldet sich zum freiwilligen Dienst im Krankenhaus
Auch Grischas Tochter Marjana meldet sich sofort zum freiwilligen Dienst im Krankenhaus. Auch sie vertraut ihren Eltern ihr Kind an. „Ich weiß noch, wie ich meine damals elfjährige Enkelin bei meiner Tochter abholte“, erinnert sich der dreifache Großvater. „Sie wohnt am linken Ufer des Dnepr. Hin ging es noch gut. Aber für den Weg zurück zu meinem nur wenige Kilometer entfernten Haus habe ich Stunden benötigt.“ Viele Menschen wollen an diesem 24. Februar raus aus der bedrohten Stadt, auf den Straßen staut sich der Verkehr und an den Tankstellen bilden sich lange Schlangen. Ein chaotisches Bild. Es ist Krieg. Tatsächlich.
Ein großer Teil der Flüchtenden macht sich auf den Weg, ohne zu wissen, wohin. Grischa Kaflovskiy, seine Frau Halyna und die drei Enkelkinder haben dagegen ein Ziel: Kehdingen im Landkreis Stade, wo Grischas langjähriger Freund und Geschäftspartner, der Unternehmer Konrad Jahncke aus Drochtersen-Assel, ihm vor Wochen ein Haus auf seinem Firmengelände angeboten hatte, als die Situation in der Ukraine immer bedrohlicher wurde.
Drei Enkelkinder, elf bis 18 Jahre alt, mussten sich von ihren Eltern trennen
Es ist schwer, die eigenen Kinder, die Schwiegertochter, Familie und Freunde zurückzulassen. Besonders für die drei Enkelkinder: Julia, damals 18 Jahre alt, der damals 14-jährigen Grischa, der nach seinem Opa benannt wurde, und die erst elfjährige Lilly. Sie mussten sich von ihren Eltern trennen – in großer Ungewissheit. Saschas Frau, die Mutter der beiden älteren Enkel Julia und Grischa, bleibt allein mit ihrer kranken Großmutter zurück im Haus in Kiew, bewaffnet mit Axt und Gewehr und in ständiger Angst vor russischen Raketenangriffen und dem befürchteten Einsatz chemischer Waffen.
Grischas Flucht im eigenen Auto dauert viele Tage. „Immer wieder hingen wir in langen Schlangen fest“, erinnert er sich. Über Moldau, Rumänien, Ungarn und Österreich kommen die Großeltern mit den Enkelkindern schließlich nach Deutschland und erreichen Drochtersen am 5. März. Sie sind in Sicherheit und dankbar dafür. Aber Grischa Kaflovskiy kann nicht untätig da sitzen, während sein Sohn und seine Tochter ihr Leben für die Freiheit ihres Landes riskieren. Er nimmt noch im gleichen Monat Kontakt zu Stades Landrat Kai Seefried auf. „Ich habe ihn um Unterstützung für die Ukraine gebeten und er hat mir sofort seine Hilfe angeboten“, erzählt Kaflovskiy. Inzwischen nennt er den Landrat beim Vornamen und einen Freund.
Solidarität der Menschen mit Opfern in der Ukraine ist ungebrochen
Die Spendenbereitschaft im Landkreis Stade ist groß: Bereits im Frühjahr des vergangenen Jahres kann der erste Hilfskonvoi unter der Schirmherrschaft des Landrates starten. Gemeinsam mit dem DRK-Kreisverband und der Freiwilligen Feuerwehr Wiepenkathen bringt Grischa Kaflovskiy einen Rettungswagen, Arzneimittel, Kleidung und Lebensmittel an die polnisch-ukrainische Grenze. Grischa begleitet den Transport auch nach der Übergabe an ukrainische Helfer weiter bis an seinen Zielort, ein Krankenhaus in dem vom Krieg gebeutelten Chmelnyzkyj.
Auch bei weiteren Hilfskonvois lassen sich der Landkreis und dessen Hilfsorganisationen nicht lange bitten. Die Solidarität der Menschen im Kreis mit den Opfern des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist ungebrochen. Kurz vor Weihnachten startet erneut ein großer Hilfstransport aus Stade, und auch danach gehen weitere Spendengelder ein, so dass Grischa Kaflovskiy vor knapp zwei Wochen wieder gen Ukraine aufbrechen kann. Diesmal bringt er ein ausrangiertes Einsatzfahrzeug in sein Heimatland, zuletzt genutzt von der Stader Feuerwehr- und Rettungsleitstelle und nun voll beladen mit Hilfsgütern im Wert von rund 15.000 Euro. An Bord befinden sich unter anderem Verbandsmaterial, Wärmedecken und Stromgeneratoren.
Gespendeter Einsatzwagen dient zur Evakuierung von bis zu zehn Personen
Die Hilfsgüter sind inzwischen an der Front in Bachmut im Donbass angekommen, wie Kaflovskiy bestätigt. „Der Transport wurde auf dem letzten Stück von gepanzerten Fahrzeugen begleitet“, sagt er. Der gespendete Einsatzwagen diene als Evakuierungsfahrzeug. Zehn Personen können damit gleichzeitig aus der Schusslinie gebracht werden. In Bachmut toben seit Monaten intensive Kämpfe. „Es ist die Hölle“, sagt Kaflovskiy leise.
Sein Sohn ist inzwischen dort stationiert und versucht mit seinen Kameraden, die umkämpfte Stadt zu halten. Vielleicht hätte Grischa die Spenden aus Stade deshalb gern selbst dort abgeliefert. Um seinem Sohn wenigstens für kurze Zeit näher zu sein. „Aber mit meinen 65 Jahren habe ich keine Genehmigung für die Fahrt bis an die Front erhalten“, sagt er.
Sohn Grischa schickt gelegentlich ein „Daumen hoch“-Symbol von der Front
So bleibt ihm weiter nur der bange Blick aufs Handy. Telefonieren geht nicht, aber ab und zu erhält Grischa Kaflovskiy von seinem Sohn eine SMS mit dem „Daumen hoch“-Symbol. „Dann bin ich glücklich“, sagt er. „Weil es bedeutet, dass es ihm gut geht.“ Seine Tochter konnte er am vergangenen Dienstag in Kiew treffen. Die Kosmetikerin arbeitet weiterhin im Krankenhaus und kümmert sich um die vielen Verletzten. „Es war sehr schön, sie wiederzusehen“, sagt Grischa.
Auf der langen Fahrt zurück ins Kehdinger Land hat er viel Zeit zum Nachdenken. Ihm fällt die Frau aus Buxtehude ein, die ihm ihren betagten Opel Astra überließ. Er brachte ihn in die Ukraine. „Damit konnten sich drei Männer bei einem Angriff retten“, sagt er. „Einer davon war mein Sohn.“ Er sei unheimlich dankbar für die große Hilfsbereitschaft der Menschen im Landkreis. „Mit ihrer Unterstützung haben wir schon so vielen Menschen geholfen, darunter auch Waisenkindern aus dem zerstörten Mariupol.“
„Wenn sie aus unserer Heimat vertrieben haben, geht es an den Wiederaufbau“
Auf seiner Reise zwischen den beiden Welten, die vorbeiführt an gesprengten Brücken, abgebrannten Gebäuden, verlassenen Dörfern und zerstörten Hoffnungen, geht Grischa Kaflovskiys Blick nach vorn. „Gemeinsam sind wir stark“, sagt er und denkt an die Zeit nach dem Krieg. Wie es sein wird, wenn er Sohn und Tochter wieder in die Arme schließen kann. Wenn die Familie wieder vereint sein wird.
„Die Russen kriegen uns nicht klein. Wenn wir sie aus unserer Heimat vertrieben haben, geht es an den Wiederaufbau. Dann gibt es viel, viel zu tun“, sagt er. Ärmel hochkrempeln, zusammen und mit vereinten Kräften anpacken: „Es gibt jetzt eine unglaubliche Einheit im Land. Und es tut gut, fast die ganze Welt auf unserer Seite zu wissen.“
Enkelin Julia will Psychologin werden, um später ihren Landsleuten zu helfen
Seine zupackende Art und seine Zuversicht hat Grischa Kaflovskiy offenbar weitergegeben: Enkelin Julia ist inzwischen 20 Jahre alt und studiert Jura. Nun möchte die junge Frau aber Psychologin werden, um später ihren an den Seelen verletzten Landsleuten zu helfen. Damit sie den Krieg irgendwann hinter sich lassen können. Für einen Neuanfang. In Frieden. Und in Freiheit.