Winsen. Der Online-Händler setzte sich vor Gericht gegen die Datenschutzbehörde durch, die ein Ende der Dauerkontrolle erzwingen wollte.

Amazon darf die Mitarbeiter im Logistikzentrum Winsen weiterhin digital kontrollieren. Das hat das Verwaltungsgericht Hannover am Donnerstagabend in Winsen (Landkreis Harburg) entschieden. Das Gericht hebt damit eine Untersagung der Landesbeauftragten für den Datenschutz in Niedersachsen, Barbara Thiel, aus dem Jahr 2020 auf.

„Wir halten den Bescheid für rechtswidrig“, sagte die Vorsitzende Richterin Andrea Reccius. „Wir haben erkannt, dass diese Steuerung erforderlich ist“. Eine Berufung ließ das Gericht zu. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Amazon darf Mitarbeiter permanent kontrollieren

Nach einem Kontrollverfahren hatte die Aufsichtsbehörde im Jahr 2020 die ununterbrochene Erfassung personenbezogener Daten in dem Amazon-Werk in Winsen als unzulässige Überwachung per Bescheid untersagt. Dagegen hatte die Amazon Winsen GmbH Klage eingereicht und nun vom Verwaltungsgericht Recht bekommen. Aufgrund einer aufschiebenden Wirkung der Klage durfte Amazon das Vorgehen seit 2020 fortsetzen.

Das Verwaltungsgericht Hannover verlegte die Verhandlung in die Räume von Amazon in Winsen, um sich vor Ort ein Bild von den Logistikprozessen zu machen.
Das Verwaltungsgericht Hannover verlegte die Verhandlung in die Räume von Amazon in Winsen, um sich vor Ort ein Bild von den Logistikprozessen zu machen. © dpa | Daniel Bockwoldt

Das Gericht folgte mit der Entscheidung der Argumentation der Klägerin, der Amazon Winsen GmbH. Für die Anwälte von Amazon war klar: Das bestehende System entspreche dem deutschen Recht und den EU-Vorschriften und sei aus betrieblichen Gründen unbedingt notwendig. Eine Steuerung der Logistikprozesse sei ohne die Erhebung der individuellen Arbeitsleistung nicht möglich. Die minutengenauen, individuellen Leistungswerte würden bei der Steuerung der Logistikprozesse dazu benötigt, um auf Schwankungen zu reagieren.

Unternehmerische Notwendigkeit überwiegt Datenschutz für Mitarbeiter

In der Abwägung zwischen den informationellen Persönlichkeitsrechten der Mitarbeiter und den betrieblichen Erforderlichkeiten ist das Verwaltungsgericht zu dem Schluss gekommen, dass die Belange des Unternehmens in diesem Fall überwiegen.

Die Datenerhebung sei für die Beschäftigten transparent und diene nicht der Überwachung selbst, sondern der Steuerung der Abläufe. Die Steuerung führe zu einem ruhigen Betriebsablauf, der sich auch positiv auf die Mitarbeiter auswirke. Zudem sei die Privatsphäre der Mitarbeiter nicht von der Überwachung betroffen.

Richterin: Anpassungs- und Leistungsdruck ist da, aber nicht übermäßig

Richterin Andrea Reccius sagte aber auch: „Wir haben keinen Zweifel, das hier ein gewisser Anpassungs- und Leistungsdruck entsteht.“ Es gebe aber auch positive Effekte, wie der Einsatz in dem jeweils den Fähigkeiten entsprechenden Bereich. Die Richterin sprach von einer „schwierigen Aufgabe“ und nannte auch die von Amazon angeführte „Schaffung objektiver und fairer Bewertungsgrundlagen für Feedback und Personalentscheidungen“ als Kriterium für die Entscheidung.

„Wir freuen uns über die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover“, so die Reaktion eines Amazon-Pressesprechers nach der Verhandlung. Warenwirtschaftssysteme seien Industriestandard.

Über Förderbänder gelange die Waren in das Winsener Lager und gehen bei Bestellung verpackt zurück in Lastwagen.
Über Förderbänder gelange die Waren in das Winsener Lager und gehen bei Bestellung verpackt zurück in Lastwagen. © Amazon

Berufung? Datenschutzbehörde ist nicht überzeugt von der Urteilsbegründung

Die Gegenseite sieht das anders: „Die Urteilsbegründung des Gerichts konnte uns nicht vollständig überzeugen“, sagte Philip Ossenkopp, Sprecher der Landesbeauftragten für den Datenschutz in Niedersachsen. Einerseits, weil vom Gericht ein Anpassungs- und Leistungsdruck durch die Datenerhebung grundsätzlich erkannt wurde. Andererseits, weil die unternehmerischen Belange über die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen gestellt wurden.

Ob die Behörde in Berufung gehen wird, ist noch unklar. Eine Entscheidung werde erst nach Zustellung der schriftlichen Urteilsbegründung fallen. Es gilt eine einmonatige Frist zur Einlegung von Rechtsmitteln nach Zugang des Urteils. Die nächsthöhere Instanz ist das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg.

Das Abendblatt berichtete kürzlich, dass die kleinteilige Kontrolle der Arbeitsschritte im Winsener Werk die Mitarbeiter mit der individuellen Paketrate massiv unter Druck setze, sowohl fest angestellte als auch insbesondere Hilfskräfte. Das Unternehmen wies die Vorwürfe von sich und beschrieb das Vorgehen als konstruktive Feedback-Kultur.

In Winsen kommen die Regale per Roboter zu den Mitarbeitern gefahren, die die Waren dann in Fächer einsortieren.
In Winsen kommen die Regale per Roboter zu den Mitarbeitern gefahren, die die Waren dann in Fächer einsortieren. © Amazon

Datenschützer sperren sich nicht gegen jede Art der Datenerfassung

Formell hatte das Gericht an der Untersagung der Landesbeauftragten für den Datenschutz in Niedersachsen aus dem Jahr 2020 nichts auszusetzen. Als problematisch und nicht zielführend empfinde es die Idee, die Datenerhebung zeitweise zu unterbrechen. Ein groberes Raster bei der Erfassung beschrieb der Anwalt der Datenschutzbehörde als geeigneteres Verfahren, weil es mehr Fehlertoleranz für den Mitarbeiter als eine permanente Kontrolle ermögliche.

Hintergrund: Wie schnell ein Mitarbeiter im sogenannten „Fulfillment Center“ in Winsen Waren verpackt oder im Lager verstaut, wird jederzeit individuell über einen Scanner erfasst und ausgewertet, um einen optimalen Warenfluss zu gewährleisten und die angekündigten Lieferzeiten einzuhalten. Vorgesetzte können so ständig einsehen, wie viele Pakete abgefertigt werden.

Der Standort Winsen ist eines von 20 großen Logistikzentren in Deutschland. 100.000 Pakete verlassen pro Tag das Zentrum mit seinen rund 1950 Mitarbeitern. Amazon gilt als einer der größten Arbeitgeber der Welt und wies 2021 einen Gewinn in Höhe von rund 33,36 Milliarden US-Dollar aus. Deutschland ist der zweitgrößte Markt für den US-Riesen.

Das Amazon-Logistikzentrum in Winsen ist rund 64.000 Quadratmeter groß, etwa 1950 Mitarbeiter sind hier beschäftigt.
Das Amazon-Logistikzentrum in Winsen ist rund 64.000 Quadratmeter groß, etwa 1950 Mitarbeiter sind hier beschäftigt. © Amazon

Verhandlung in Winsen: Richter besichtigten das Amazon-Logistiklager

Die 10. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover hatte die Verhandlung in das Logistikzentrum in Winsen verlegt. Auch, um das digitale Warenwirtschaftssystem bei einer Besichtigung des „Fulfillment-Centers“ unter die Lupe zu nehmen. Im Rahmen der Beweisaufnahme befragten die Richter auch zwei Zeugen. Eine ehemalige Betriebsratsvorsitzende und der amtierende Betriebsratsvorsitzende schilderten ihre Erfahrungen aus dem Betriebsalltag im Logistikzentrum Winsen.

Der Anwalt der Landesbeauftragten für den Datenschutz in Niedersachsen nannte die Besichtigung des Werkes und die punktuelle Befragung von Mitarbeitern in der Verhandlung wenig erkenntnisreich. Es komme nicht darauf an, wie eine Gruppe von Mitarbeitern die Kontrolle empfinde, sondern es gehe um den grundsätzlichen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte.