Lüneburg. Die „Vesperkirche“ lockt ein breites Publikum ins Gotteshaus. Was Tätowierungen und Haarschnitte mit dem christlichen Glauben zu tun haben

„Eigentlich wollte ich mir ein Tragus stechen lassen“, sagt die 23-jährige Jennifer Safronow aus Lüneburg etwas enttäuscht, während sie am Dienstagnachmittag auf einer Kirchenbank ihren Arm mit einem Henna-Tattoo verzieren lässt. Das Tragus ist ein Piercing im oberen Ohr, doch das kostenlose Piercing und Tätowieren fällt am ersten Tag der Vesperkirche leider aus. „Wir hoffen, dass der Tätowierer morgen wieder gesund ist, sonst werden wir sicher ein Ersatzteam finden“, sagt Michael Elsner, von der Lebensraum Diakonie und einer der Organisatoren der Lüneburger Vesperkirche in St. Michaelis. Man sei zuversichtlich, in den kommenden Tagen wieder im Gewölbekeller der alten Kirche tätowieren und piercen zu können.

Im Altarraum der St. Michaelis-Kirche gibt es viele Aktionen, Kinder spielen vor dem Altar. Das Kirchenschiff wird zum Restaurant und das nicht nur für Bedürftige. Jeder darf kommen.
Im Altarraum der St. Michaelis-Kirche gibt es viele Aktionen, Kinder spielen vor dem Altar. Das Kirchenschiff wird zum Restaurant und das nicht nur für Bedürftige. Jeder darf kommen. © Andre Lenthe Fotografie | André Lenthe Fotografie

Ein weiteres Highlight ist in diesem Jahr der kostenlose Haarschnitt. Im Pfarrhaus schwingt der selbstständige Friseur Hendrik Menges seinen Kamm und die Schere an drei Tagen. „Ich bin im letzten Jahr bereits spontan an einem Tag eingesprungen und als ich in diesem Jahr erneut angefragt wurde, habe ich sofort zugesagt“, erklärt der 27-jährige Adendorfer. „Normalerweise habe ich einen sehr eingeschränkten Kundenkreis. Daher ist es schön, hier mal andere Gesichter zu sehen und glücklich zu machen“, so der junge Mann, dessen Erscheinungsbild eher an einen Punk, als an einen warmherzigen Kirchenmann erinnert.

Konzept der Vesperkirche ist vor rund 25 Jahren in Stuttgart entstanden

„Es ist schön, dass hier Menschen aus verschiedenen Schichten zusammenkommen, nicht nur Arme oder Reiche, sondern diejenigen die sich sonst allzu oft aus dem Weg gehen“, sagt eine Frau, die wartend auf einem Stuhl sitzt, um sich die Haare schneiden zu lassen. Genau das ist auch die Motivation des Organisationsteams der Vesperkirche.

Das Konzept der Vesperkirche ist vor rund 25 Jahren in Stuttgart entstanden. Die Grundidee: ärmeren Menschen in einem würdigen Rahmen eine günstige oder kostenlose Mahlzeit anzubieten und darüber hinaus alle Milieus im Stadtteil an einer Tafel miteinander ins Gespräch zu bringen. Seither sind laut dem Theologen und Mitbegründer Martin Dorner deutschlandweit Dutzende Vesperkirchen entstanden, die den Grundgedanken um eigene kreative, politische und spirituelle Akzente ergänzen.

Ein ärztlicher Gesundheitscheck fürs Tier und Tierfotografie

Friseur Hendrik Menges ist selbstständiger Friseur. Während der Vesperkirche in Lüneburg schneidet er kostenlos die Haare und das nicht nur für Bedürftige. Jeder darf kommen. Lüneburg, der 22.11.2022
Friseur Hendrik Menges ist selbstständiger Friseur. Während der Vesperkirche in Lüneburg schneidet er kostenlos die Haare und das nicht nur für Bedürftige. Jeder darf kommen. Lüneburg, der 22.11.2022 © Andre Lenthe Fotografie | André Lenthe Fotografie

Ein beeindruckendes Vesperprogramm haben Gemeindepastorin Silke Ideker und Michael Elsner von der Lebensraum Diakonie mit unzähligen Helferinnen und Helfern auch in diesem Jahr auf die Beine gestellt. Ein ärztlicher Gesundheitscheck fürs Tier und Tierfotografie durch die Tiertafel Lüneburg oder Steine der Erinnerung bemalen mit der Thomasgemeinschaft, – all das steht auf dem bunten Zeitplan, genauso wie eine Second-Hand-Kleidungsverteilung, Henna-Tattoos und Yoga in der Abtskapelle. Abends zaubern beispielsweise die Landfrauen leckere Rosmarinkartoffeln auf die Teller und die Arbeiterwohlfahrt baut ein arabisches Buffet auf. Täglich wird, noch bis Freitag, um 18 Uhr die Vespermahlzeit serviert. Bevor dann der jeweilige Abend mit einem Kulturprogramm ausklingt.

„Die Einladung zu den Aktionstagen mit Eventcharakter ging ausdrücklich an alle, die Freude an Begegnung haben – Menschen, die von Armut betroffen sind, Wohnungslose und auch Lüneburger Bürger, die sozial und wirtschaftlich gut gestellt sind“, sagt Michael Elsner vom Vorstand der Lebensraum Diakonie und Projektkoordinator. „Egal welchen Glaubens, welcher Nationalität, welchen Alters“, so Elsner. Die Zeiten seien so schwierig, da suchten die Menschen nach Räumen der Nähe und der geistlichen Wärme, führt er weiter aus. Das gelte nicht nur für Menschen, die nicht wissen, wie sie ihre nächste Nebenkostenrechnung begleichen sollen, sondern auch für diejenigen die sich nach Frieden sehnten.„Die Vesperkirche ist das, was für mich Kirche in der Stadt ausmacht. Hier begegnen sich Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, es ist Raum für alle da, es läuft friedlich ab, die Stimmung ist gut. Und der Kirchraum kann einmal ganz neu erlebt werden“, freut sich Michaelis-Pastorin Silke Ideker über den Erfolg der Aktion.

Noch bis Freitag öffnet St. Michaelis in Lüneburg täglich ab 16 Uhr ihre Türen für vielfältige Vesperaktionen. Weitere Informationen zu dem Programm finden sich unter www. https://www.vesperkirche-lueneburg.de