Moisburg. Genossenschaftskonzept zur Nahversorgung erobert das Land. Moisburg will als erster Ort der Region digitalisierten Dorfladen realisieren.
Tante wer? Tante Enso! Unter diesem Namen betreibt der Onlinesupermarkt Myenso ein innovatives Dorfladenkonzept. In Moisburg soll dieses nun realisiert werden. Das Konzept könnte eine Revolution hinsichtlich der Lebensmittelgrundversorgung auf den Dörfern einleiten. Denn die inhabergeführten Tante-Emma-Läden sterben aus, und einen Supermarkt zu betreiben, lohnt sich in kleinen Ortschaften oft nicht. Bringt Tante Enso mit der Digitalisierung des Lebensmitteleinzelhandels einen Ausweg aus dem Versorgungsdilemma?
Auch das Dorf Moisburg hat ein Problem: Die Menschen wohnen zwar sehr gern in der ländlichen Idylle an der Este, aber ihnen fehlt eine Lebensmittel-Nahversorgung. Und das schon seit vielen Jahren. Es gibt zwei hervorragende Bäcker – aber sonst nichts. Der Rat hat immer wieder versucht, einen Supermarkt in die Gemeinde zu holen, zuletzt scheiterte die Ansiedlung eines Netto-Marktes auf dem Gelände der ehemaligen Großdiskothek MicMac. Die Discounter-Kette machte nach hoffnungsvollen Verhandlungen einen Rückzieher. Das Betreiben eines Supermarktes lohnt sich in dem Dorf mit seinen nicht einmal 2000 Einwohnern offenbar nicht. So müssen die Moisburger für den Einkauf mindestens bis nach Hollenstedt, Buxtehude, Apensen oder Neu Wulmstorf fahren.
Distanzen von über fünf Kilometern
Doch diese Distanzen von über fünf Kilometer könnten sich nun als Vorteil erweisen. Denn ein Dorf, das einen Tante Enso-Laden haben möchte, muss fünf oder mehr Kilometer vom nächsten Supermarkt entfernt liegen. Eine weitere Bedingung für eine Tante-Enso-Gründung: Die Zahl der Einwohner muss zwischen 1000 und 3000 liegen. Auf Moisburg trifft das zu. Auch deshalb hat sich der Ort nun um die Realisierung eines Dorfladens nach dem Konzept von Tante Enso beworben.
Das Unternehmen ist Teil des Internetmarktplatzes Myenso. Der Online-Händler wurde von dem Marktforscher Norbert Hegmann und dem Unternehmensberater Thorsten Bausch 2016 gegründet. Seit 2019 Jahren verkaufen sie nicht nur Lebensmittel online, sondern bauen auch Kleinsupermärkte – und zwar vermehrt auf dem Land. Tante Enso – der Name ist eine Kombination aus den Worten „Tante-Emma-Laden“ und „Myenso“ – realisiert diese genossenschaftlich getragenen Mini-Supermärkte.
Bundesweit soll das Konzept auf 800 bis 1000 Standorte ausgedehnt werden. Ende 2022 soll es bereits 25 bis 35 Tante-Enso-Läden geben, so die Unternehmensstrategie. Und einen davon wollen die Moisburger in ihr Dorf holen, was bei einem kurzfristig einberufenen Treffen für ein Bewerbungsvideo vor dem Moisburger Amtshaus deutlich wurde. „Tante Enso für Moisburg“ riefen etwa 120 Teilnehmer und Teilnehmerinnen wie aus einem Mund in die Kamera und formulierten damit ihren Wunsch nach einer besseren Nahversorgung im Ort.
Bevor Tante Enso eröffnet, müssen 300 Dorfbewohner in die Tasche greifen
Doch damit ist es nicht getan: Bevor Tante Enso einen Laden eröffnet, müssen mindestens 300 Dorfbewohner in die Tasche greifen und jeweils einen Anteil über 100 Euro in einer Einkaufsgenossenschaft zeichnen, also Teilhaber werden. „Auf diese Weise wollen wir uns einen festen Kundenkreis sichern und die Menschen vor Ort ins Boot holen“, sagt Myenso-Gründer Thorsten Bausch.
„Sie sollen bewusst entscheiden, ob ein Lebensmittelgeschäft im Ort wirklich benötigt wird oder ob sie lieber weiterhin den nächsten Supermarkt ansteuern.“ Bereits zum 1. September wurden für Moisburg 57 gültige Anteile und 43 gültige Teilhaberanträge verzeichnet. Dabei ist die Werbung dafür noch nicht einmal gestartet. Wenn 300 Moisburger eine Partnerschaft mit Tante Enso eingegangen sind, geht es in die konkrete Planung, die Moisburger können dann Wünsche fürs Sortiment und hinsichtlich der Öffnungszeiten äußern. „Bei der Gestaltung der Tante-Enso-Läden und des Sortiments werden die Anwohner mitentscheiden“, so Bausch. Getragen wird der Dorfladen von einer GmbH, die vor Ort gemeldet ist und zur einen Hälfte der Einkaufsgenossenschaft und zur anderen Hälfte dem Onlineshop Myenso gehört.
Geeignete Flächen stehen mitten im Dorf bereit
Sollte das Tante-Enso-Konzept in Moisburg nicht realisiert werden, werden die Anteile zurückgezahlt, versichern das Unternehmen und Bürgermeister Ronald Doll. Er steht – wie der gesamte Rat – hinter dem innovativen Konzept: „Wir suchen schon seit einer ganzen Weile nach solchen Projekten und waren sofort begeistert von der Grundidee“, sagt Doll. Bei der Präsentation im Rat habe einfach alles gestimmt, so der Bürgermeister: „Man hat gemerkt, dass der Anbieter umfangreiche Marktanalysen betrieben hat.“ Der Markt soll bereits zum Ende des Jahres eröffnen.
Geeignete Flächen stehen in einem Wohn- und Geschäftsgebäude mitten im Dorf bereit: „Tante Enso könnte alle Flächen neben der Mühlenbäckerei Schmacke anmieten“, so Doll. Bei einem Besuch im Dorf ist dieser Standort, an dem auch ein Parkplatz vorhanden ist, bei Myenso-Geschäftsführer Bausch sehr gut angekommen, wie er im Abendblatt-Gespräch bestätigt. „Wir haben uns eingehend mit dem Ort beschäftigt und glauben, dass Moisburg ein toller Ort für Tante Enso ist“, sagt Bausch.
Kunden können bei Tante Enso rund um die Uhr einkaufen
Kunden können bei Tante Enso rund um die Uhr einkaufen. Der Markt ist „24/7“ zugänglich. Zu bestimmten, noch festzulegenden Tageszeiten ist das Geschäft mit Personal besetzt. Außerhalb der Öffnungszeiten wird der Zutritt über eine Tante-Enso-Karte geregelt, mit denen die Tür geöffnet und an der Selbstbedienungskasse gezahlt werden kann. Für die Karten entstehen keine Kosten, es gibt keinen Mindestumsatz. Einkaufen kann bei Tante Enso jeder – auch ohne Anteile zu besitzen. Das Sortiment umfasst 2500 bis 3000 Artikel für den Direktkauf vor Ort inklusive Obst und Gemüse, Fleisch- und Wurstwaren sowie Molkereiprodukten aus der jeweiligen Region.
Auch Start-ups und Manufakturen aus der Lebensmittelbranche sollen Platz in den Regalen und Kühltruhen eingeräumt werden. Wenn im Sortiment etwas fehlt, können Wünsche zur Ergänzung geäußert oder bis zu 20.000 Artikel im Online-Supermarkt Myenso bestellt werden. Diese werden in die Tante-Enso-Filiale geliefert, ebenso wie Bestellungen von Zuhause aus. Manche Tante-Enso-Läden bieten sogar einen Lieferservice an.
„Wir wollen unsere Online-Handel-Fähigkeiten mit dem stationären Tante Emma-Gefühl verbinden“, sagt Thorsten Bausch. „Die innovative Grundidee ist die Verbindung der Ressourcen des Ortes mit den Kompetenzen und den Möglichkeiten des Online-Supermarktes.“
Mit diesem Ansatz könnte Tante Enso das Versorgungsdilemma auf den Dörfern lösen helfen. Rund 50 Prozent der Deutschen leben auf dem Land. Die Suche nach einer Neuinterpretation des Supermarktmodells liegt offenbar auch im Interesse des Gesetzgebers: In Artikel 72 des Grundgesetzes werden die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ als Ziel genannt. 2018 wurde eine Kommission eingesetzt, um diesbezüglich Handlungsempfehlungen zu erarbeiten. Bund und Länder stellen Fördermittel bereit, um ländlich „aufzusupermarkten“.
In Sauensiek scheiterte ein ambitioniertes Dorfladenprojekt
Wie schwierig dies sein kann, zeigt ein Beispiel aus der Gemeinde Sauensiek im Landkreis Stade: Dort baute die Gemeinde für rund 1,4 Millionen Euro inklusive einer EU-Förderung in Höhe von 500.000 Euro ein Nahversorgungszentrum, das im Herbst 2021 fertig gestellt wurde. Neben einer Arztpraxis sollte dort auch ein Dorfladen realisiert werden, doch bis zum Winter fand sich kein Betreiber. Erst im Dezember öffnete ein mutiges Unternehmerinnen-Paar einen Unverpackt-Laden, doch das Konzept scheiterte trotz großer medialer Aufmerksamkeit – der Laden wurde sogar in den Tagesthemen vorgestellt – bereits nach wenigen Monaten und wurde Ende April geschlossen.
Seither ist die Gemeinde wieder auf der Suche nach einem Betreiber für das nagelneue 300 Quadratmeter große Geschäft an der Hauptstraße. Nach Aussage von Bürgermeister Rolf Suhr laufen Verhandlungen mit einem möglichen Kandidaten. Tante Enso kommt für die Gemeinde aber grundsätzlich auch in Frage: „Wenn die aktuellen Verhandlungen scheitern, werden wir uns mit dem genossenschaftlichen Modell von Tante Enso beschäftigen “, bestätigt Suhr dem Abendblatt.