Lüneburg. Der Umgang mit dem Tabuthema Fehlgeburt ändert sich. Was die Lüneburger Sozialforscherin Julia Böcker über den Wandel herausgefunden hat.
Mitte der Zweitausenderjahre: Julia Böcker erlebt, wie die einjährige Tochter einer befreundeten Familie in Uganda stirbt – und beginnt sich für Rituale der Trauer zu interessieren. Später stößt sie bei ihren Recherchieren auf trauernde Eltern, die sich für ihren Kummer rechtfertigen – weil sie „nur“ ein ungeborenes Kind verloren hatten. Ab wann der Schwangerschaftsverlust öffentlich als betrauernswert gilt, scheint ein gesellschaftliches Problemthema zu sein, so ihr Gedanke.
Böcker hat ihr kulturwissenschaftliches Studium in Leipzig zu diesem Zeitpunkt gerade begonnen und verliert das Thema zunächst aus den Augen. Auch weil sie denkt: In Deutschland sind solche Fälle ja eher eine Seltenheit. Ein weit verbreiteter Trugschluss, wie sie später erfährt. Denn Schwangerschaftsverluste sind in Deutschland und der Welt an der Tagesordnung. Etwa jede sechste schwangere Frau hat eine Fehlgeburt, wie verschiedene medizinische Studien angeben. Das Problem: Wir reden sehr wenig darüber.
Deutscher Studienpreis für Julia Böckers Doktorarbeit
Knapp 15 Jahre nach ihren ersten Berührungspunkten ist die Kultursoziologin (36) Expertin auf dem Gebiet der Verlustforschung und arbeitet am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana Universität in Lüneburg. Seit 2013 beschäftigt sie sich intensiv mit dem gesellschaftlich Umgang mit Fehl- und Totgeburt. Selbst bevorzugt Sie den Begriff „Stille Geburt“.
Für ihre Doktorarbeit („Fehlgeburt und Stillgeburt. Eine Kultursoziologie der Verlusterfahrung“) wurde sie kürzlich gleich zweimal ausgezeichnet (das Abendblatt berichtete). Sowohl die Jury des Deutschen Studienpreises (zweiter Platz, Sozialwissenschaften) als auch des Dissertationspreises der Deutschen Gesellschaft für Soziologie halten Böckers Arbeit für einen wichtigen Beitrag für Wissenschaft und Gesellschaft.
Umgang mit Schwangerschaftsverlusten im Wandel
Durch ihre intensive Forschung weiß Julia Böcker: Der gesellschaftliche Umgang mit Fehl- und Totgeburt unterliegt hierzulande und in ganz Europa einem Wandel. Schwangerschaftsverlust und die damit verbundenen emotionalen Folgen für Mütter und Väter sind heute beispielsweise präsenter in der Öffentlichkeit denn je. So machten Promis wie Michelle Obama, Britney Spears und Meghan Markle ihre Fehlgeburten publik.
Aber: „Die Themen Fehl- und Totgeburt sorgen immer noch für kommunikatives Unbehagen“, so Böcker. Im Alltag seien Fehl- und Stillgeburtserfahrungen immer noch unsichtbar und ein Tabu. Was sich in der Breite geändert habe, sei die Identitätsfindung. Eltern sehen sich heute in der Regeln als „Sterneneltern“ – ein Begriff, der Anfang der Zweitausenderjahre aufkam und heute verbreitet ist.
Es gibt „Sternencafés“ zum Austausch, in Harburg
Und Betroffene finden Unterstützung. Es gibt „Sternencafés“ zum Austausch, in Harburg etwa 2018 in der Helios Klinik in Heimfeld gegründet. Hebammen helfen Betroffenen, die Kinder nach dem Verlust als Personen wahrzunehmen – indem sie beispielsweise die Leichname waschen und einkleiden, den Eltern in dem Arm geben und fotografieren. Auch Bestatter und Friedhöfe sind heute mit Grabfeldern auf Stillgeburten eingerichtet. Der Friedwald bei Buxtehude bietet etwa sogenannte Sternschnuppenbäume für die Bestattung von Sternenkindern an.
In ihrer Doktorarbeit macht Julia Böcker eine Bestandsaufnahme dieser speziellen Verlustkultur und fragt, welche Voraussetzungen in der Gegenwart überhaupt gegeben sein müssen, damit gesellschaftlich klar ist: Da ist ein Kind verlorenen gegangen. Ihre Erkenntnisse: (1) Nach dem Schwangerschaftsverlust muss irgendeine Form von Körper vorliegen. (2) Das Wissen über den Tod muss vorhanden und medizinisch belegt sein. (3) Es braucht symbolische Praktiken, die das Kind als Person erscheinen lassen, wie das Waschen und Anziehen im Kreißsaal und das Betten durch Bestatter.
Frühe Fehlgeburten seit 2013 als Person anerkannt
Was betroffene Eltern von Stillgeborenen belaste: Sie müssen in der akuten Situation selbst entscheiden, welche Schritte sie unternehmen und fühlten sich damit oft allein gelassen. Seit 2013 gibt es überhaupt erst die Möglichkeit, Fehlgeborene vom Standesamt dokumentieren lassen – und ein Recht auf Bestattung unabhängig von Schwangerschaftsdauer und Gewicht. Wichtige gesetzliche Schritte für die Anerkennung eines Verlustes.
Ob das eigentliche Leben des Kindes mit der Schwangerschaft, der 24. Woche oder der Geburt beginnt und ob eine Beurkundung oder Bestattung stattfindet, entscheidet aber jeder für sich selbst. Gesellschaftlich bleibt das ein streitbares Thema. Und die Reaktionen des Umfeldes bergen nach der Verlusterfahrung Konfliktpotenzial (siehe Tipps zum Umgang mit Betroffenen).
Warum ausgerechnet dieses schwere Thema?
Sieben Jahre lang hat sich Julia Böcker mit Stillgeburten beschäftigt, Interviews mit Eltern, Hebammen und Bestattern geführt und Online-Foren gewälzt. Sterben, Tod und Trauer begleiten sie als Themen schon wesentlich länger. Da kommt die Frage auf: Warum widmet sie sich einer Sache, die so stark mit Trauer und Schmerz verbunden ist? Böcker sagt: „Ich habe gemerkt, dass ich das persönlich gut aushalten kann.“
Als Jugendliche wollte sie Gerichtsmedizinerin werden, in der Studienzeit habe sie ein Seminar zur Bestattungskultur fasziniert. „Der Tod ist ein Abschluss“, sagt sie. Unser Umgang damit sei aber nicht so natürlich wie das Ende selbst. „Er ist historisch und kulturell geprägt“ und dadurch „keine unveränderbare Tatsache“.
Außerdem ist die Wissenschaftlerin der festen Überzeugung, dass es in jeder Hinsicht hilft, über Tod und Stillgeburt zu sprechen. „Ich habe das Gefühl, dass ich mit der Arbeit etwas zurückgeben kann.“ Das hat auch das Gremium der Körber-Stiftung offensichtlich so gesehen. Im Dezember wird Bundestagspräsident Bärbel Bas der Nachwuchswissenschaftlerin den mit 5000 Euro dotierten Deutschen Studienpreis überreichen.
Aus Gesprächen mit Betroffenen und Hebammen weiß die Kultur- und Sozialforscherin: Die Reaktionen im Umfeld führen immer noch zu viel Schmerz bei „Sterneneltern“. Angehörigen rät sie:
Berührungsängste überwinden, statt den Kontakt aus Unsicherheit zu vermeiden. In der Trauersituation herrsche immer die Gefahr „sekundärer Verluste“, wie es in der Soziologie heißt. Wer nicht mehr angerufen oder zu Partys eingeladen wird, laufe Gefahr, auch noch Freundschaften und soziale Kontakte zu verlieren. „Trauernde sind nicht immer traurig.“ Auch wenn Trauernde den Kontakt zunächst ablehnen, empfiehlt sie, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal nachzuhaken.
Simpel, aber keine Selbstverständlichkeit: Den Namen des verstorbenen Kindes merken und verwenden. Eltern leiden darunter, wenn ihrem Kind die Individualität abgesprochen und der Verlust weggewischt wird.
Keine Floskeln wie „Versuch es doch einfach noch einmal“, „War bestimmt besser so“ oder „Die Natur weiß schon, was sie tut“ benutzen. Für die meisten Betroffenen seien solche Versuche, die eigene Sprachlosigkeit zu überspielen oder das Geschehene zu rationalisieren, keine Hilfe.