Jesteburg. Georg Nelsen gründete die Künstlergruppe Werkstatt 97 in Jesteburg. Jetzt lädt sie zur Jubiläumsausstellung

Das Geheimnis ihres Erfolges? Es gibt keinen Chef, keine Chefin, es gibt keinen, der die Richtung vorgibt, der sagt, was gemacht werden soll und was nicht. Einen Tonangeber braucht es auch nicht in der Werkstatt 97, dieser außergewöhnlichen Malgruppe, die seit einem Vierteljahrhundert im Landkreis Harburg kreativ ist.

„Lassen und gelassen werden“ lautet das Credo der zehn Mitglieder, die sich seit 25 Jahren freitags zum gemeinsamen Malen in Jesteburg treffen. Anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens krönt die Künstlergruppe ihr gemeinsames Wirken mit einer sechstägigen Ausstellung im Heimathaus Jesteburg (Niedersachsenplatz 5). Die Gemeinschaftsausstellung ist bunt wie die Gruppe selbst.

Arzneimittelhersteller im Ruhestand begründet die Gruppe

Da ist Helga Hesse, 81 Jahre alt, die früher in einer großen Harburger Tanzschule als Tanzlehrerin gearbeitet hat, und die ihre Freude an der Bewegung auch in ihrer Malerei umsetzt. Oder Kurt Freitag, Jahrgang 1934, ehemaliger Elektroingenieur, der „malt, was ihm in den Pinsel kommt“, ebenso wie Ulla Janzen, ehemalige Schneiderin, die mit ihren 80 Jahren in ihren Bildern flexibel bleiben möchte wie einst im Berufsleben: „Ich male alles, von abstrakt bis Natur“, sagt sie. Und dann ist da noch Georg Nelsen, der mit seinen 91 Jahren nicht nur altersmäßig an der Spitze steht, sondern auch gern und viel erzählt. Schließlich war er es, der 1997 die Idee hatte, eine Ateliergruppe zu gründen, „weil es in der Gemeinschaft einfach mehr Freude macht, kreativ zu sein“.

Georg Nelsen war damals 66 Jahre alt und gerade in den Ruhestand versetzt. Sein Berufsleben hatte er als Arzneimittelhersteller in der pharmazeutischen Industrie verbracht. Dann kam die Rente – und mit ihr die Zeit, die es zu füllen galt. „Auf dem Grundstück meiner Nachbarin stand eine Holzhütte, die ungenutzt war“, erinnert er sich. „Also bin ich rüber gegangen und habe gefragt, ob ich diese zum Malen nutzen darf.“ Er bekam den Schlüssel. Als Gegenleistung half er der Dame bei der Pflege ihrer Dahlien. Innerhalb kurzer Zeit gesellten sich die ersten Gleichgesinnten zur Jesteburger Malhütte am Royberg. „Ich habe den Kachelofen angeheizt und dann wurde zum Pinsel gegriffen – jeder so, wie er es für richtig hielt“, erinnert sich Nelsen. Mit elf Personen war die Malgruppe voll. Man gab sich den Namen Werkstatt 97.

„In der Gemeinschaft malt es sich besser“, darin sind sich die ambitionierten Künstler aus Jesteburg einig. Auch wenn im Grunde jeder für sich arbeitet, es weder übergeordnete Themen noch Vorgaben gibt. „Man ist ganz einfach zusammen und stellt zusammen aus“, sagt Georg Nelsen. Mal im Heimathaus Jesteburg, dann in der Kunststätte Bossard. „Vielfalt ist unser Geheimnis“, so Nelsen. „Jeder ist individuell, jeder anders.“

Über die Jahre hinweg regelrechte Freundschaften entstanden

Längst ist die Werkstatt 97 mehr als eine Ateliergemeinschaft, die gemeinsam einen Raum zum kreativen Schaffen belegt. „Es sind über die Jahre hinweg regelrechte Freundschaften entstanden“, sagt Kurt Freitag. „Man kann sich aufeinander verlassen.“ Im gemeinsamen Austausch und in vielen Arbeitsstunden motiviere man sich gegenseitig, bilde sich weiter und gehe aufeinander ein. „Wir lernen mit und voneinander“, sagt Gründer Georg Nelsen, der stolz darauf ist, dass sich die Gemeinschaft über die vielen Jahre hinweg gehalten hat. „Kaum eine Künstlervereinigung in Deutschland hat so lange bestanden“, sagt der 91-Jährige. Selbst der „Blaue Reiter“ habe nicht so lange durchgehalten.

Die Künstlergruppe war 1911 von Wassily Kandinsky und Franz Marc gegründet worden und zählte namhafte Künstler wie Paul Klee und August Macke zu ihren Mitgliedern. Die im Umfeld des Blauen Reiters tätigen Künstler waren wichtige Wegbereiter der modernen Kunst des 20. Jahrhundert. Die Gruppe löste sich 2014 auf.

Solange ihre Hände die Pinsel noch führen können

Die Mitstreiter der Gruppe Werkstatt 97 gibt es hingegen auch nach 25 gemeinsamen Jahren noch. Die Mitstreiter sind sich sicher, dass sie solange weitermachen werden, wie ihre Hände die Pinsel führen können. Das Erfolgsrezept ihrer Gemeinschaft? „Sind wir selbst“, sagt Georg Nelsen. „Und unsere Liebe zur Malerei.“ Selbst die Zeit in der Corona-Pandemie, als sich die Gruppe über zwei Jahre hinweg nicht sehen konnte, haben die Mitstreiter überstanden. „Wir haben einfach die Pinsel zur Seite gelegt und stattdessen zum Telefonhörer gegriffen“, so Nelsen, der selbst über einen Volkshochschulkurs einst zur Malerei gekommen ist und angelehnt an seine berufliche Prägung in der Pharmaindustrie ausgesprochen exakte Bilder malt.

Zu sehen sind diese im Heimathaus Jesteburg am 22., 23. und 24. Juli sowie am 29., 30. und 31. Juli jeweils von 15 bis 18 Uhr. Auch die Künstler werden vor Ort sein und über ihre Zusammenarbeit berichten. Wer mehr erfahren oder Kontakt knüpfen möchte, sollte vorbeischauen, denn die Gruppe ist, – auch das heutzutage ungewöhnlich – im Jahr 2022 nur in echt zu erreichen. Sie verzichtet auf im Internet oder Social Media.