Meckelfeld. In der Oberschule im Seevetal können Kinder aus der Ukraine und Schüler mit Migrationshintergrund ihr Talent entfalten und Erlebtes verarbeiten

Angelina ist zwölf. Sie mag Kunst. In ihrer Heimat Kiew hat sie oft gemalt. Nicht nur in der Schule, auch Zuhause. Die Bilder musste sie zurücklassen. Genauso wie alles andere, was sie besitzt und liebt: ihren Vater, ihre Freundinnen, Teile der Familie. Sie zuckt mit den Schultern, dann lächelt sie, taucht ihren Pinsel in die Farbe und beginnt zu malen. „Das wird ein Schmetterling“, sagt sie. Mitschülerin Kateryna, 15 Jahre, malt einen Himmel. Sie kommt aus Saporoschje, ist vor drei Monaten mit ihrer Mutter und ihren drei Schwestern nach Deutschland geflohen. Der Himmel, den sie an diesem Nachmittag im Rahmen des Malkurses an der Oberschule im Seevetal zeichnet, ist hell und freundlich.

Doch es gibt auch andere Bilder, die in diesem außergewöhnlichen Malkurs entstehen. Bilder, die düster sind, die Verunsicherung, Angst und das tiefe Trauma ausdrücken, das viele Kinder aus der Ukraine begleitet und oft auch jene, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Für diese Kinder und Jugendlichen hat die Oberschule ein besonderes Angebot gestartet: einen Malkurs für Kinder mit Flucht- oder Migrationshintergrund, die hier lernen sollen, Vertrauen und Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Es geht darum, Talente zu fördern und Seelen zu heilen

Jeden Donnerstagnachmittag kommen die Kinder zusammen, um mit professioneller Unterstützung der Jesteburger Mallehrerin Susanne Dinter und Initiatorin Jutta Werner an ihren Bildern zu arbeiten. „Es geht uns darum, Talente zu fördern und Seelen zu heilen“, sagt Jutta Werner. „Wir haben in den zurückliegenden Monaten erlebt, dass Malen für den einen oder anderen auch eine therapeutische Funktion haben kann. Was sich vielleicht – noch – nicht in Worte fassen lässt, kann man zeichnen oder malen.“ Deshalb habe man entschieden, den Malkursus auch für die Flüchtlingskinder aus der Ukraine zu öffnen.

Angelina (r.) und Lisa sind beide aus der Ukraine geflohen. Im Malkurs der OBS im Seevetal können sie den Krieg für einen Moment vergessen.
Angelina (r.) und Lisa sind beide aus der Ukraine geflohen. Im Malkurs der OBS im Seevetal können sie den Krieg für einen Moment vergessen. © HA | Hanna Kastendieck

Gemalt wird mit Acrylfarben, mit Bunt- oder Bleistiften. Die Motive können frei gewählt werden. Bei der Technik steht mit Susanne Dinter eine professionelle Kraft zur Seite. Unterstützt wird sie seit ein paar Monaten von Halyna Herashchenko. In der Ukraine arbeitete sie als Lehrerin. Als der Krieg ausbrach, floh sie aus ihrer Heimat. Jetzt ist sie mit ihren zwei Kindern in einer Familie in Seevetal untergebracht.

„Wenn Kinder glücklich sind, bin ich es auch.“

So schnell wie möglich, möchte sie auch in Deutschland ihren Beruf ausüben. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt sie. „Es macht mir so viel Freude mit Kindern zu malen. Wenn Kinder glücklich sind, bin ich es auch.“ Derzeit suche sie dringend nach einer Stelle als Lehrerin. Doch es sei schwierig, etwas zu finden. Also hilft sie mit ihrer Expertise im Malkurs der Oberschule mit.

Dort nämlich geht es nicht nur darum, Themen über das Malen zu verarbeiten, sondern auch Techniken zu vermitteln und Begabungen zu fördern. „Die Erfahrung, dass man in einer weniger sprachdominanten Disziplin etwas gut kann und darin auch Anerkennung erfährt, begünstigt im Idealfall auch die Leistungen in anderen Fächern“, sagt Lehrkraft Jutta Werner. „Im Umgang mit Farben, Formen und Materialien werden immer auch Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert, die dem Lernen zugutekommen – zum Beispiel die Feinmotorik, Aufmerksamkeit, Disziplin, Kreativität und der Intellekt.

Angebot entstand auf Anregung zweier Schüler

Mallehrerin und Künstlerin Susanne Dinter gibt Rinaldo aus Rumänien und Ensar aus Albanien (l.) ein paar Tipps für ihre Bilder.
Mallehrerin und Künstlerin Susanne Dinter gibt Rinaldo aus Rumänien und Ensar aus Albanien (l.) ein paar Tipps für ihre Bilder. © HA | Hanna Kastendieck

Finanziert wird das Angebot, das im Herbst 2021 mit zehn Schülern gestartet ist, vom Lions Club HH 13, dem Schulverein Oberschule Meckelfeld, Elternbeiträgen und privaten Spenden. Für das kommende Schuljahr hat außerdem die Kreissparkasse Harburg-Buxtehude ihre Unterstützung für den Malkurs zugesagt. Dieser entstand im vergangenen Jahr auf Anregung zweier Schüler aus Serbien und Rumänien. „Die Jungs malten herausragende Bilder im Unterricht“, sagt Jutta Werner, die als Lehrkraft Deutsch als Zweitsprache unterrichtet und 18 Kinder aus 15 Nationen unterrichtet. Schnell sei klar geworden, dass es mehr solcher Talente an der Oberschule gebe, so Werner. „Aufgabe von Schule ist, Talente zu erkennen und zu fördern.“

Genau darum geht es auch Co-Direktorin Annegret Dittmer-Woitha. Unter den 370 Schülerinnen und Schülern am Standort Meckelfeld haben viele einen Migrationshintergrund. Vor allem für diese Kinder und Jugendlichen hat die Oberschule den Malkurs eingerichtet. „Das Thema Integration steht bei uns an oberster Stelle“, sagt sie. „Die Kinder sollen ins Licht gestellt werden, sie sollen in ihren Stärken gefördert werden und erleben, wie gut und erfolgreich sie sein können.“ Dafür kooperiert die Schule mit Sportvereinen, unterstützt Schülerinnen und Schüler beim Box- und Fußballtraining und bietet besonderen Talenten die Teilnahme am Malkurs an. Inzwischen ist dieser auch im unternehmerischen Bereich kreativ geworden. Die schönsten Motive werden in Form von Postkarten im Schulbüro sowie in Geschäften in Seevetal angeboten. Vom Erlös aus dem Verkauf wird neues Material für den Kursus angeschafft.

Manchmal lassen ihre Bilder auch tief in ihre Seelen blicken

Die Bilder aus dem Malkurs schmücken die Flure der Oberschule im Seevetal
Die Bilder aus dem Malkurs schmücken die Flure der Oberschule im Seevetal © HA | Hanna Kastendieck

Oft malen die Kinder ganz klassische Motive, Landschaften und Tiere, Stillleben oder Comics. Manchmal aber lassen ihre Bilder auch tief in ihre Seelen blicken und geben Anlass, genauer hinzuschauen. So wie das Bild eines Jungen aus der Ukraine. „Er hat am Anfang immer nur eine Leiter gemalt, die im luftleeren Raum stand, ohne jeglichen Halt“, sagt Jutta Werner. „Es gab keine Mauer, kein Haus, kein Baum, an dem sie hätte lehnen können. Es war eine Leiter ins Ausweglose. Vor ein paar Wochen wählte der Schüler erneut dieses Motiv. Doch diesmal fand die Leiter Halt. Sie lehnte fest an einer Wand. Für Jutta Werner ist das eine gute Botschaft. „Der Junge findet nach Monaten der Ungewissheit neue Sicherheit“, sagt sie.

Schülerin Angelina kommt mit der neuen Situation in Deutschland gut zurecht. Sie fühlt sich wohl in ihrem neuen Umfeld und ist neugierig auf das Leben hier. Ihre Schmetterlinge hat sie fast fertig gemalt. Es ist ein lebendiges Bild geworden. Es passt zu ihrer Stimmung. Genauso wie der Himmel, den Mitschülerin Kateryna in der letzten Malstunde begonnen hat. Er ist nicht wolkenverhangen, nicht düster, sondern hoffnungsvoll. Die Achtklässlerin lächelt. Dann sagt sie: „Ich fühle mich wohl in Deutschland. Und wenn alles wieder gut ist, dann gehen wir ja zurück in die Ukraine.“