Bendestorf. „Rückwärts laufende Hunde“ heißt der neue Roman von Autor Jesko Wilke, der seine Leser in die Zeit von Love, Peace und Flower-Power entführt
Diesmal ist es ein ganz persönliches Buch geworden. Eine Zeitreise in seine eigene Jugend, zurück zu den eigenen Wurzeln - auch wenn die Figuren aus seinem neuen Roman, durchweg fiktiv seien, wie Autor Jesko Wilke betont. „Wer aber in Bendestorf aufgewachsen ist und die 1970er Jahre hier erlebt hat, wird sich an das besondere Lebensgefühl dieser Zeit erinnern“, sagt er. „Rückwärts laufende Hunde oder warum ich Gudrun Ensslin zehntausend Mark schulde“ heißt der neue Roman des Bendestorfer Autors, der jüngst im Lübecker Rote Katze Verlag erschienen ist. „Meine Hommage an die 1970er Jahre“, nennt Wilke das Werk. „An ein wildes, spannendes und gleichzeitig unbeschwertes Jahrzehnt, in dem meine Generation sich so richtig austoben konnte.“
Die Geschichte handelt vom Jungen Joe, der zum Sternekoch wird, obwohl er weder riechen noch schmecken kann. Joe wächst bei seiner Mutter auf, die ihn allein erzieht und deren Lebensmittelpunkt ihr Unternehmen ist. Sie betreibt eine Schönheitsfarm. Erzählt wird Joes spannende Reise in das Erwachsenenleben, geprägt durch Love, Peace und Flower-Power. 1975 erlebt Joe eine Offenbarung: Ein bunt bemalter VW-Bus voller Hippies hält vor der Schönheitsfarm seiner Mutter. Onkel Fred, ein langhaariger Jazzpianist, kehrt zurück aus San Francisco. Mit ihm kommt eine ungeheure Wahrheit ans Licht über eine Beziehung, die jeder Norm widerspricht.
Die Schönheitsfarm Cornelia gab es tatsächlich in Bendestorf
„Den Ort des Geschehens, die Schönheitsfarm Cornelia gab es tatsächlich in Bendestorf“, sagt Jesko Wilke. Sie befand sich in einem großen Gebäude am Irmenhof und war weit über die Nordheide hinaus bekannt. Bis in die 2000er hinein lief der Betrieb. Dann wurde das Haus umgebaut. Heute sind darin Wohnungen.
Doch damals, in den 1970er Jahren, florierten Geschäfte wie diese in Bendestorf, auch, weil der Luftkurort am Rande des Seevetals mit seinen Filmstudios und entsprechender Prominenz ein Anziehungspunkt weit über die Grenzen der Region war. Von 1947 bis 2005 wurden hier knapp 100 Filme und Serien produziert. Werke wie „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef oder „Ave Maria“ mit Zarah Leander wurden hier gedreht. Sie verliehen dem Ort Glanz und gaben ihm seinen Spitznamen: „Heide-Hollywood“.
„Bendestorf war damals mondän“, erinnert sich Jesko Wilke an die 60er und 70er Jahre. „Es wurde viel und wild gefeiert, wer anders war, galt als interessant. Die Leute, die hierherzogen, bauten sich auf riesigen Grundstücken große Häuser mit Indoor-Schwimmbädern.“ In dieser Umgebung spielt Wilkes Roman und in dieser Umgebung wuchs auch der Autor selbst auf. Geboren wurde er, wie seine Romanfigur Joe, 1959. 1964 zog seine Mutter Huberta Viktoria Wilke mit ihrem Sohn nach Bendestorf. „Wir wohnten in dem einzigen Reihenhaus im Ort“, erzählt Wilke. „Aber das spielte keine Rolle. An jedem Pool gab es eine Badehose für Jesko.“ Auch dass seine Mutter alleinerziehend war, interessierte die Bendestorfer nicht. „Die Menschen hier waren offen für alles, was anders war. Unser Lebensmodell fanden sie spannend.“
Seine Eltern führten eine Dreierbeziehung
Ein Lebensmodell, das alles andere als gewöhnlich war. Denn: Seine Eltern führten eine Dreierbeziehung. „Mein Vater, Werner Commandeur, arbeitete als stellvertretender Chefredakteur bei einer großen Hamburger Frauenzeitschrift“, erzählt Jesko Wilke. „Er war bereits verheiratet und lebte mit seiner Frau und zwei Töchtern in Buchholz, als er meine Mutter, Huberta Viktoria Wilke, kennenlernte. Statt sich zu trennen, entschied er, mit beiden Frauen zusammenzuleben. Zweimal in der Woche kam er nach Bendestorf, den Rest der Zeit verbrachte er in Buchholz bei seiner Frau und den Mädchen.“
Jesko Wilke ist davon überzeugt davon, dass dieses Lebensmodell gut funktioniert hat. „Auch wenn ich meinen Vater nur eingeschränkt erlebt habe, habe ich nie Groll auf ihn verspürt“, sagt er. „Bei uns zuhause war die Stimmung gut, es gab es keinen autoritären Vater, der sich nach einem anstrengenden Arbeitstag an seinen Kindern ausleben konnte. Wir haben unseren Vater immer nur fröhlich erlebt. Wenn er bei uns war, wurde gelacht.“
Freiheit, Freundschaft und Toleranz
Von seinen Eltern und ihrer unkonventionellen Lebensart hat Jesko Wilke viel für sein Leben mitgenommen. Werte wie Freiheit, Freundschaft und Toleranz, um die es auch in „Rückwärts laufende Hunde“ geht. Auch das schreiberische Talent haben ihm seine Eltern in die Wiege gelegt. Beide waren als Journalisten und Autoren erfolgreich, haben für Zeitschriften geschrieben, Romane und Sachbücher publiziert.
Ihr Sohn wählte allerdings zunächst einen anderen Beruf. Nach dem Abitur am Buchholzer Albert-Einstein-Gymnasium ging Jesko Wilke nach Ottersberg bei Bremen, studierte Philosophie, Kunsttherapie und Kunstpädagogik und arbeitete nach Studienabschluss mit arbeitslosen Jugendlichen und Menschen mit psychischen Problemen. „Allerdings waren die Verdienstmöglichkeiten in den sozialen Einrichtungen nicht besonders gut“, sagt er.
Als sich sein zweites Kind ankündigte, machte er eine Fortbildung zum Computer-Grafikdesigner und heuerte bei als Grafiker einem Hamburger Zeitschriftenverlag an. Er layoutete Lifestyle- und Fitness-Magazine und las sich jeden Artikel, der in seine Hände kam, durch. „Irgendwann dachte ich: ‚Vielleicht kann ich das auch ganz gut: Schreiben‘“, sagt er. Im Verlag lernte er Dörte, seine zweite Frau, kennen. „Sie hat mir Mut gemacht, es einfach mal zu versuchen. Ohne sie wäre ich nicht da, wo ich heute bin.“
Seit 2002 arbeitet Jesko Wilke als Autor und freier Journalist
Seit 2002 arbeitet Jesko Wilke als Autor und freier Journalist, viele Jahre für das Hundemagazin „Dogs“. Er hat sechs Sachbücher und vier Romane verfasst. Der fünfte ist bereits in Arbeit, wird durch ein Stipendium der Initiative „Neustart Kultur“ der Bundesregierung unterstützt. Der Roman mit dem Arbeitstitel „Die Pole der Unzugänglichkeit“ spielt in der Zeit der Nürnberger Prozesse und hat durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine ungewollte Aktualität bekommen. „Die Geschichte bildet eine Epoche ab, in der es um die Institutionalisierung des Völkerrechts ging, um Flucht, Gräueltaten und massive Propaganda“, sagt Jesko Wilke. „Themen, mit denen sich die Welt nun erneut wird beschäftigen müssen.“ Auch in das neue Buch werden persönliche Elemente einfließen, diesmal von Seiten seines Vaters. „Ich habe seine Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden“, sagt Wilke. „Mein Vater wurde noch als 17-Jähriger eingezogen, überlebte den Krieg schwer verwundet.“
Mehr will er an dieser Stelle jedoch noch nicht verraten. Schließlich muss er sich erstmal darum kümmern, die „Rückwärts laufenden Hunde“ an die Leser zu bringen. Dafür tourt Wilke durch die Gemarkung, schlüpft in die Rolle des verstorbenen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki und stellt dem Publikum vor der Lesung die alles entscheidende Frage, die auch Ranicki immer wieder gestellt hat: „Handelt es sich bei diesem Buch um Literatur oder Schund?“ Er zuckt mit den Schultern und schmunzelt. Dann sagt er: „Die Antwort darauf überlasse ich wohl besser jedem selbst.“