Jesteburg. Schulen im Landkreis Harburg erteilen Oberschülern Absagen für die Oberstufe. Die IGS Seevetal reagiert mit einem Antrag.

Der Brief an Flaminia Caffarelli kam am 16. März. „Absage eines Schulplatzes“ stand darauf. Und weiter: „Leider können wir dir und Ihnen aufgrund der hohen Zahl an internen Anmeldungen im kommenden Schuljahr keinen Schulplatz anbieten. Die Kapazitätsgrenze ist ausgeschöpft.“ Auch Lea John, Bennet Engelbrecht, Emma Lange und neun weitere Zehntklässler der Oberschule (OBS) Jesteburg haben auf die Bewerbung für ihre Wunschschule eine Absage erhalten. So wie den vier Oberschülern geht es dutzenden anderen im Landkreis Harburg. Sie wollen ihr Abitur an einer allgemeinbildenden Schule machen, haben sich für einen Oberstufenplatz beworben – und wurden abgelehnt.

Nach Abendblatt-Informationen hat allein die Integrierte Gesamtschule (IGS) Buchholz 59 Bewerbern eine Absage erteilt. Auch die IGS Seevetal und das Gymnasium am Kattenberge können erstmalig keine weiteren Schüler für die Oberstufe aufnehmen. Für die Betroffenen sind die Absagen ein Schlag ins Gesicht. „Ich fühle mich richtig schlecht“, sagt Lea John. „Ich habe Angst“, sagt Flaminia Caffarelli. „Wir fragen uns, was wir falsch gemacht haben, dass uns keiner will“, sagt Bennet Engelbrecht. „Die Wahrheit ist: Wir interessieren eben niemanden“, glaubt Emma Lange.

Landkreis Harburg will weitere Schulen schaffen

Die Situation an den allgemeinbildenden Schulen im Landkreis ist angespannt. Selbst Schulen wie die IGS Seevetal, die in den vergangenen Jahren stets freie Plätze für Oberschüler von außen hatte, ist voll. Zwar arbeitet der Landkreis seit 2017 an einem Schulentwicklungsplan, will weitere IGSen schaffen. Doch bis es soweit ist, stehen die OBS-Schüler, die jetzt und in den kommenden Jahren ihren erweiterten Realschulabschluss machen und anschließend ihr Abitur an einer allgemeinbildenden Schule machen wollen, ohne Schulplatz da. Ihnen bleiben nur zwei Optionen: Entweder sie wählen ein Gymnasium am Rande des Landkreises und nehmen lange Fahrtwege in Kauf. Oder sie entscheiden sich gegen die klassische Schulbildung und für eine Berufsbildende Schule (BBS), die der beruflich orientierten Grundausbildung oder Weiterbildung dient. Genau das aber wollen viele nicht.

Jesteburger Eltern und Schüler protestierten vor dem Kreishaus
Jesteburger Eltern und Schüler protestierten vor dem Kreishaus © HA | Bieker

„Unsere Schüler des gymnasialen Zweigs haben sich in der neunten und zehnten Klasse auf die Oberstufe einer allgemeinbildenden Schule vorbereitet“, sagt Iris Strunk, Schulleiterin der OBS Jesteburg. Da passe die BBS mit ihren fachlichen Schwerpunkten nicht. Bereits in den vergangenen Jahren habe es für Schüler der OBSen Absagen von den Gymnasien gegeben, obwohl es von dort ein verbrieftes Recht für die Bewerber auf einen Schulplatz gebe. „Jetzt sind auch die IGSen voll. Die Schüler wissen nicht wohin. Sie haben geweint, als sie die Absage erhielten.“

„Schüler haben das Vertrauen verloren“

Und: „Sie haben das Vertrauen verloren“, sagt Andreas Bertow, didaktischer Leiter an der OBS Jesteburg. „Wir haben den Schülern beigebracht, dass sie ihren individuellen Weg suchen, ihr Leben strukturieren und planen. Jetzt erleben sie, dass sich damit an die Wand fahren.“

So wie Bennet Engelbrecht. „Ich hatte einen echten Plan“, sagt der 16-Jährige, „wollte nach der zehnten Klasse an die IGS, dort den Leistungskurs Sport besuchen und nach dem Abi in Köln Sportmedizin studieren.“ Dafür habe er in den vergangenen zwei Jahren richtig Gas gegeben, seinen Notenschnitt stark verbessert. „Leistung lohnt sich eben nicht“, lautet seine Erkenntnis. Auch für Flaminia Caffarelli bricht mit der Absage eine Welt zusammen. „Ich hatte bei der Bewerbung ein so gutes Gefühl“, sagt die 16-Jährige aus Ramelsloh, die nun plant, nach den Sommerferien auf ein Internat zu gehen. „Im Landkreis Harburg gibt es keinen Platz für mich.“ Mitschülerin Lea John, die mit einem Notendurchschnitt von 1,2 eine Absage der IGS erhalten hat, überlegt, eine allgemeinbildende Schule in Hamburg zu besuchen, um dort ihr Abitur zu machen. „Ich möchte gern eine IGS besuchen“, sagt sie. „Die Schulform einer Gesamtschule überzeugt mich.“

Alexandra Neukirch, Schulleiterin der IGS Seevetal
Alexandra Neukirch, Schulleiterin der IGS Seevetal © HA | Hanna Kastendieck

Um doch noch eine Lösung für die betroffenen Schülerinnen und Schüler zu finden, hat sich auch Schulleiterin Alexandra Neukirch eingeschaltet. Sie leitet die IGS Seevetal, musste 20 Bewerbern eine Absage für die 11. Klasse erteilen. Jede einzelne berührt sie. Also hat sie sich an den Landkreis gewandt und darum gebeten, ausnahmsweise für das Schuljahr 2022/23 für den zukünftigen 11. Jahrgang eine zusätzliche Oberstufenklasse einrichten zu dürfen. „Ich würde mich freuen, wenn in diesem Jahr und zu diesem Zeitpunkt eine Ausnahmeregelung möglich sein kann, zumal die aktuellen Zahlen eine Fünfzügigkeit aus der eigenen Schülerschaft durchaus erwartbar scheinen lassen“, sagt sie. Der Antrag wurde abgelehnt, da an IGSen laut Kreistagsbeschluss nur eine Vierzügigkeit erlaubt ist.

Eltern haben an den Landkreis geschrieben

Jetzt haben auch die Eltern an den Landkreis geschrieben. „Schon rein rechtlich haben Schüler einen Anspruch darauf, eine bestimmte Schule der von ihnen gewählten Schulform zu besuchen“, sagt Arne Engelbrecht, dessen Sohn Bennet von den Engpässen an den Oberstufen betroffen ist. In Frage kämen nur solche Gymnasien, die in zumutbarer Weise mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden könnten.

In der Kreisverwaltung, die als Schulträger nun für die Verteilung abgelehnter Schüler und Schülerinnen im Landkreis verantwortlich ist, versteht man die Enttäuschung. „Einen Anspruch auf eine Aufnahme an eine Wunschoberstufe gebe es jedoch ausdrücklich nicht, betont Kreissprecher Andres Wulfes. „Grundsätzlich stehen im Landkreis Harburg ausreichend Plätze für alle Schülerinnen und Schüler zur Verfügung. Freie Plätze mit Möglichkeiten zum Abschluss der Fachhochschulreife und des Abiturs bieten die Berufsbildenden Schulen in Winsen und Buchholz an.“ Zwar sei hier der Schwerpunkt ein anderer als an IGS oder Gymnasium. Aber auch ein Abitur an der BBS bedeute ja keine spätere Einschränkung auf bestimmte Studienfächer.