Abendblatt-Kolumnist Helge Adolphsen zum Weihnachtsfest 2021 über ganz besondere Krippen und ihre Herkunft

Seit meiner Kindheit liebe ich Weihnachtskrippen. Wir sechs Kinder durften sie erst am Heiligabend sehen. Die sehr kleine und schlichte Krippe stand unter dem Weihnachtsbaum. Oft habe ich versonnen vor ihr gestanden. Später haben wir sie an einen unserer Söhne vererbt. Vor über zwanzig Jahren habe ich für den Michel eine große Krippenausstellung organisiert. Ich besuchte die Krippensammlerin in ihrem kleinen Reihenhaus. Da standen 300 Krippen! Einige sogar auf dem Spülkasten im Bad! 200 haben wir dann in die Krypta des Michel gebracht.

Später ist die Krippenfreundin nach St. Petersburg, Riga und Dresden gegangen. Ihr war es ein starkes inneres Bedürfnis, ihre Krippen vielen Menschen zu zeigen, und das besonders in den Ländern, in denen statt des Christkinds „Väterchen Frost“ zur unchristlichen Weihnachtsfigur wurde.

Hirte aus rostrotem Ton

In diesem Jahr habe ich eine besondere Krippe entdeckt. Ein Bekannter erzählte mir, dass er in den „Oberliner Werkstätten“ in Potsdam-Babelsberg einen Hirten bestellt habe. Die Krippe habe er von seinen Großeltern geerbt. Aber nun war der Hirte aus rostrotem Ton beschädigt. Die Krippen der „Dienst- und Hilfsorganisation“ der Diakonie werden von sechzehn Männern und Frauen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen gefertigt. Dabei auch blinde Menschen. Die Figuren sind in den fünfziger Jahren von einer Bildhauerin und einem Handwerksmeister entworfen und gestaltet worden. 1954 wollte Ilse Scheffer in den Westen übersiedeln. Alle ihre Krippen sollte sie dem Staat überlassen. Da hat sie alle Figuren den „Oberlin-Werkstätten“ geschenkt.

Die heutige Werkstatt-Chefin erklärt, dass es eine schwere Arbeit für die Menschen mit Behinderung ist, aber auch eine schöne, die sie stolz macht.

Der fünfzigjährige Frank Engler ist geistig behindert. Er knetet im Stehen den ballgroßen Tonklumpen auf einem Tisch und wälzt ihn mit einer Teigrolle zu einer Platte. Dann legt er sie in eine Gipsform und drückt den Ton in die Form. Er muss dabei behutsam vorgehen, sonst bilden sich Luftblasen und der Ton reißt. Eine Stunde liegen Maria und Josef, die Hirten und Könige und das Kind in der Krippe in der Form. bis sie trocken sind. Dann holt er sie heraus. Aber die Figuren haben noch Nähte, da, wo der hintere und der vordere Teil zusammengefügt sind. Frank Engler glättet die Nähte. Er muss jeden Krümel entfernen.

Der Hirte soll doch staunen!

Er tut das mit einem Holzstab, der vorn eine Drahtschlinge hat. Engler ist 25 Jahre dabei und hat viel gelernt. Beim Arbeiten ist er sehr konzentriert und spricht kein Wort.

Die Krippen sind dann noch nicht fertig. Die Werkstattleiterin, eine gelernte Kunsthandwerkerin, arbeitet alle Krippen von Frank Engler nach. Das geschieht mit Modellierhölzern. Das ist Feinarbeit. Die Gesichtszüge jeder Figur werden sorgfältig bearbeitet. So werden bei einem Hirten die Augen besonders behandelt. Die Kunsthandwerkerin zieht erst das Oberlid nach und dann das Unterlid. Der Hirte soll doch staunen! Und die, die in der Weihnachtszeit auf ihn schauen, sollen selbst ins Staunen kommen und ihre Freude mit der des kleinen Hirten teilen. Nicht nur über die Kunstfertigkeit staunen, sondern auch über das, was Hirten und Könige an der Krippe erfahren.

Ein Kollege erzählte mir, dass die Oberliner Krippen in Potsdam überall zu sehen sind. In den Kliniken und Rehazentren, in den Wohngruppen der Menschen mit Behinderungen der kirchlichen Einrichtung. Und auch in den Kirchen der Umgebung. Dort stehen sie immer vor der Kanzel, so dass alle sie sehen können. Aber sie sind auch zum Anfassen und sind wie Handschmeichler. So werden sie zu einer sinnlichen Erfahrung der Weihnachtsbotschaft von der Geburt des göttlichen Kindes. Aber sie werden auch im Unterricht für die blinden Menschen genutzt. Ihre klaren Formen, die mich an die Figuren von Ernst Barlach erinnern, können die blinden Menschen gut erfühlen. Das Geschäft blüht nach wie vor. So wird der Bekannte, dessen ererbter Hirte zerbrochen war, eine neue Chance erhalten. Es gibt Bestellungen aus Kanada und Österreich. Aber jetzt hat die Corona-Pandemie die Produktion beeinträchtigt. Die Mitarbeiter mussten lange in ihren Wohngruppen bleiben. Das war für sie belastend. Vor der Pandemie wurden 170 kleine und 25 große Krippen in einem Jahr gefertigt. Jetzt gibt es ganze Krippen erst Weihnachten 2022 wieder. Schön ist es für alle Mitarbeitenden in den „Oberliner Werkstätten“, dass die Krippen so begehrt sind. Sie haben ihren Preis: Eine große Krippe kostet 1420, eine kleine 481, Maria 105 Euro. Der größte König 132, der Esel 115. Verständlich, denn es stecken viele Stunden Arbeit in den Figuren. Und sie erfüllen nicht nur die Menschen, die sie hergestellt haben, mit weihnachtlicher Freude, sondern auch alle, die sie betrachten.