Winsen. Mariyah Nerecheva (Mitte) kümmert sich im Ehrenamt um die Bewohner des Seniorenwohnheims Cura in Winsen.
Unten im Eingang, gleich hinter dem festlich geschmückten Tannenbaum, steht die Krippe aus Holz. Jesus-Kind in schlichten Futtertrog, Maria knieend, Joseph daneben mit verträumtem Blick in die Ferne. Die Tiere umrunden die Szene, Esel, Ochse und Schafe, dazwischen Hirte und Hund. Einrichtungsleiterin Ariane Marschke lässt die Krippe jedes Jahr zu Weihnachten im Entrée des Seniorenwohn- und Pflegeheims Cura aufstellen. Nicht nur als Dekoration, sondern als Symbol für die Mitmenschlichkeit.
Eine solche Krippe, nur viel kleiner, steht auch zwei Etagen höher auf der Fensterbank des Frühstücksraums. Und genau hier wird diese Mitmenschlichkeit jeden Dienstag von 9 bis 11 Uhr gelebt. Dann nämlich kommt Mariyah Nerecheva zu den alten Menschen im Cura Seniorenwohnheim. Sie kommt, um den Bewohnerinnen und Bewohnern ihre Zeit zu schenken, Aufmerksamkeit und Abwechslung. Sie bleibt, um sich ihnen zuzuwenden und gemeinsam ein paar Stunden zu verbringen.
Mariyah kommt mit ihren Körben voll Bastelmaterial, mit guter Laune und Zeit
Mariyah Nerecheva ist Bulgarin, lebt seit einem Jahr in Winsen. Für die Statistik ist die 42-Jährige eine von rund 1,5 Millionen Arbeitnehmern, die aus anderen EU-Ländern nach Deutschland gekommen sind, um hier zu leben und einen Beruf auszuüben. Für die Menschen von Cura ist Mariyah aber so viel mehr. Wenn sie kommt, ist es ein guter Tag für die Bewohner und Bewohnerinnen des Heims. Für Menschen wie Waltraud Kämpfer zum Beispiel. Sie ist 92, lebt seit zwei Jahren im Heim und sieht seitdem nicht mehr viel von der Welt. Die meiste Zeit des Tages verbringt sie auf ihrem Zimmer, sie telefoniert, schaut fern und einmal in der Woche bekommt sie Besuch von ihrem Sohn. Sie klagt nicht. Aber insgeheim ist Dienstag ihr Lieblingstag. Denn dann kommt Mariyah mit ihren Körben voll Bastelmaterial, mit guter Laune und Zeit. „Mariyah ist ein Segen“, sagt Frau Kämpfer. Mitbewohnerin Ingrid Wittschack nickt zustimmend. Auch sie ist viel allein. Im vergangenen Jahr zog die 85-Jährige mit ihrem Mann ins Heim. Er verstarb im September. Kurze Zeit später kam Mariyah zum ersten Mal.
Die Bulgarin lebt seit einem Jahr in Deutschland, arbeitet bei einer Fast-Food-Kette und besucht einen Deutschkurs. In ihrer Heimat hat sie als Logopädin gearbeitet. Sie ist ein Mensch, der sich gerne um andere kümmert. Im Deutschkurs erfuhr sie über das Hamburger Projekt „Mitmacher“ von der Möglichkeit, sich ehrenamtlich zu engagieren. “Mitmacher“ bringt Geflüchtete, Menschen mit Migrationshintergrund und soziale Organisationen zusammen, um freie Ehrenamtsstellen zu besetzen. Bislang war das Engagement der Initiative auf Hamburg beschränkt. Künftig soll es auf den Landkreis Harburg ausgeweitet werden.
Chance zur Integration
Rund 31 Millionen Menschen sind aktuell in Deutschland in einem Ehrenamt aktiv. Jeder dritte also tut hierzulande in seiner Freizeit etwas Gutes für die Gesellschaft, für das es kein Geld gibt, sondern die Chance, neue Erfahrungen zu sammeln und das Gute Gefühl, mit seinem Wirken das Zusammenleben der Gesellschaft zu bereichern.
Für Mariyah ist die Aufgabe im Seniorenheim zudem eine Chance zur Integration. „Hier kann ich mein Deutsch verbessern und mehr über die Arbeit im Pflegeheim erfahren“, sagt die 43-Jährige. „Das Ehrenamt macht mir Freude und es gibt mir die Möglichkeit, besser in Deutschland anzukommen, sich nicht mehr als Fremde zu fühlen, sondern als jemand, der dazugehört und gebraucht wird.“ In Bulgarien habe sie in ihrem Beruf viel mit alten Menschen zu tun gehabt. „Als Logopädin werde ich in Deutschland nicht tätig sein können. Dafür müsste ich perfekt Deutsch sprechen“, sagt sie. „Mit Menschen möchte ich aber auch hier arbeiten, vielleicht als Alten- oder Krankenpflegerin.“
Einrichtungsleiterin Ariane Marschke ist froh über die freiwillige Unterstützung. „Ehrenamtliche Mitarbeitende wie Mariyah entlasten das Personal und schenken den Bewohnern Zuwendung. Viele, die bei uns wohnen, haben keine Angehörigen mehr. Für sie ist der Besuch von Ehrenamtlichen besonders wertvoll.“ Dabei gehe es weniger um das große Programm, sondern vielmehr um die persönliche Ansprache. „Das Thema Depression im Alter spielt eine große Rolle“, sagt Ariane Marschke. „Da hilft es, wenn jemand kommt, der sich Zeit nimmt.“
Möglich sei sowohl eine Eins-zu-Eins-Betreuung als auch die Ansprache einer Gruppe. Begleitet werden die Ehrenamtlichen von Mitarbeiterin Kerstin Lund. Die Ergotherapeutin kennt die Bewohnerinnen und Bewohner genau, weiß, was sie mögen und wer zu ihnen passt. „Es ist enorm wertvoll, dass Ehrenamtliche zu uns kommen“, sagt sie. „Und wenn es nur zehn Minuten sind, die sie sich nehmen. Die Bewohner freuen sich darauf die ganze Woche. Wenn dann einer absagt, ist die Enttäuschung jedes Mal groß.“
Auf Mariyah Nerecheva aber ist Verlass. „Ich werde weiterhin kommen, auch wenn ich eine Ausbildung beginnen sollte“, verspricht sie. Dann macht sie sich auf den Heimweg, vorbei an der großen Krippe im Eingangsbereich des Seniorenheims. Dort steht Maria mit dem Jesuskind. Sie steht für Barmherzigkeit, für eine Frau, die trotz ungewisser Zukunft nie den Mut verliert. Wie gut der Name zu ihr passt - darüber hat die Bulgarin nie nachgedacht.
Ehrenamt
„Engagiert ankommen“ heißt das Integrationsprojekt von MITmacher. Ziel des Projekts ist es, geflüchtete Menschen und soziale Organisationen zusammenzubringen.
Die Mitarbeiter von MITmacher sprechen gezielt Menschen in Integrationskursen an, suchen mit ihnen gemeinsam das richtige Projekt und begleiten die Ehrenamtlichen sowie die Einrichtung nach Bedarf. Infos unter: www.
mitmacher.org
Um die Vermittlung von Ehrenamtlichen kümmert sich auch die Agentur für Ehrenamt. Sie unterstützt die Kreisverwaltung des Landkreises Harburg, Vereine und Bürger bei ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit, ob als Betreuer im Sportverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr, als Ratsmitglied in den Gemeinden, im Naturschutz oder in einer Initiative.
Die Agentur für Ehrenamt informiert über Aktuelles zum Ehrenamt, Weiterbildungsmöglichkeiten und die niedersächsische Ehrenamtskarte. Sie berät bei Steuer- und Versicherungsfragen im Ehrenamt und bietet eine Ehrenamtsbörse mit Engagement-Angeboten von Vereinen und Organisationen, die Freiwillige suchen. Weitere Informationen: www.
landkreis-harburg.de