Neu Wulmstorf . Auf Besucher wirkt die Gemeinde wie eine Musterhaus-Ausstellung des Reihen- und Doppelhausbaus. Was macht das Leben hier aus?
Als sich Anfang der 1970er Jahre Stadtplaner Gedanken machten, wie man die damalige Stadtflucht von Familien aus Hamburg ins Umland am besten leiten könnte, kamen sie auf das sogenannte Achsenmodell: Entlang der Hauptverkehrswege sollte die Landschaft möglichst frei bleiben, am Ende der Achsen sollten Kleinstädte wie Buxtehude oder Elmshorn zu größeren Aufbauorten mit Einwohnerzahlen um 60.000 entwickelt werden.
Es kam, natürlich, ganz anders. Die Aufbauorte wuchsen längst nicht so, wie sie sollten. Gewachsen ist vor allem der innere Speckgürtel an den Landesgrenzen und damit Kommunen wie das niedersächsische Neu Wulmstorf.
Neu Wulmstorf sei eine „umbaute Kreuzung“
Mittlerweile ist der Kernort der Gemeinde nahezu komplett bebaut, die letzten Baulücken sind seit jüngster Zeit weitgehend vergeben. Warum ausgerechnet diese Ecke der Region so beliebt als neuer Wohnort ist, dürfte für viele, die hier auf der B 73 nur durchfahren, merkwürdig erscheinen. Neu Wulmstorf – das sei eine „umbaute Kreuzung“, hat selbst einmal ein örtlicher Kommunalpolitiker festgestellt. Und tatsächlich wirkt Neu Wulmstorf auf den Besucher zunächst wie eine Musterhaus-Ausstellung des deutschen Reihen- und Doppelhausbaus der vergangenen Jahrzehnte.
Einen historischen Kern sucht man vergeblich. Erst in jüngerer Zeit ist entlang der Bahnhofstraße so etwas wie ein kleines Geschäftszentrum entstanden. Wahrgenommen wird Neu Wulmstorf aber meist als Fortsetzung des Hamburger Stadtrandes entlang der B 73: Ein Ort, von dem lange gesagt wurde, er sei gar kein richtiger Ort. Manche sagen das noch heute.
Immer mehr Menschen ziehen nach Neu Wulmstorf
Dennoch ziehen immer mehr Menschen hierher. Neu Wulmstorf galt einmal als eine der am schnellsten wachsenden Gemeinden Niedersachsens. Und auch in den vergangenen Jahren hält dieser Trend an. Von 2000 bis 2020 wuchs die Bevölkerung um knapp zwölf Prozent auf mehr als 22.000 Bewohner. In Hamburg betrug im selben Zeitraum der Zuwachs sechs Prozent, in Niedersachsen nur 0,7 Prozent. Gerade in jüngster Zeit erlebt der Kernort rund um seinen Bahnhof einen neuen Bauboom.
Allerdings nicht mehr vornehmlich in Reihenhäusern. Jetzt werden hier dieselben, mehrgeschossigen Flachdach-Gebäude gebaut wie überall sonst in Hamburg auch; gern mal mit verbaler Architektur-Aufhübschung versehen, indem man die Projektnamen mit vornehm klingenden Endungen versieht: wie „Höfe“ oder „Terrassen“, oder sie werden gleich zu „Stadtvillen“. Man könnte diese Entwicklung auch als die urbane Phase Neu Wulmstorfs bezeichnen. Gut 1000 neue Wohnungen sind es bald, die in einem kurzen Zeitraum neu entstanden sind.
Knapp 4000 Euro für jeden Quadratmeter Neubau
Doch warum? Für Neu Wulmstorfs Bürgermeister Wolf Rosenzweig (SPD) gibt es da eine klare Antwort: „Es ist die Entwicklung des Wohnungsmarktes, der drängt praktisch aus Hamburg heraus“, sagt er. Und tatsächlich gibt ein Vergleich der Baupreise ihm recht: Nach Aussagen von Projektentwicklern muss man für jeden Quadratmeter Neubau in Neu Wulmstorf mit etwa knapp 4000 Euro kalkulieren, in Hamburg sind es gut 2000 Euro mehr.
Für den typischen Reihenhauskäufer dürfte der Traum vom Eigenheim in der großen Stadt damit ziemlich ausgeträumt sein, in Orten wie Neu Wulmstorf ist er gerade noch möglich – und man bleibt doch stadtnah.
Gefühlt ist man noch in Hamburg
Die Kosten-Unterschiede schlagen sich dann auch auf die Mietpreise nieder: Die Kaltmieten liegen in Neu Wulmstorf in Neubauten bei zehn, elf Euro im Monat pro Quadratmeter. In der Neuen Mitte Altona sind es in vergleichbaren Geschossbauten 15 oder 16 Euro. Dafür bekommt man dort zwar mehr Urbanität, man muss es sich aber auch leisten können.
Vermutlich aber ist es oft schlicht auch eine andere Klientel, die jetzt in Neu Wulmstorf diese neuen Wohnungen mietet. Darauf deuten manche Gespräche und Beobachtungen von Kommunalpolitikern: Oft ziehen gerade ältere Neu Wulmstorfer in die Mietwohnungen und verkaufen ihre Reihenhäuser im Ort. So wie Sigrid Christoph. Die Kinder der 77-Jährigen leben in Süddeutschland, ihr Mann ist kürzlich verstorben. „Was soll ich allein mit dem großen Haus?“, sagt sie. Und so sind es dann doch wieder Reihenhäuser, die Menschen nach Neu Wulmstorf bringen. Nur eben auf Umwegen.
Aus Neubürgern werden oft Pendler
Und oft werden aus diesen Neubürgern dann Pendler, weil der Job weiter in der großen Stadt verbleibt. Und da dürfte Neu Wulmstorf nach Einschätzung von Bürgermeister Rosenzweig in der Gunst so weit oben liegen, weil seit 2007 die S3 im Ort hält. In 33 Minuten ist man von dort in der Hamburger City und profitiert von einer günstigen HVV-Zone. „Das ist sicher ein wichtiger Faktor der jüngsten Entwicklung“, vermutet er.
Ganz praktisch für Zuzügler aus Hamburg ist dann noch der Umstand, dass man die Hamburger Vorwahl bei seinem Telefonanschluss behält. Entstanden sei das in den „wilden Zeiten“ nach dem Krieg und dann nie wieder geändert worden, sagt Rosenzweig, der schon Neubürger erlebt hat, die verwundert waren, dass in Neu Wulmtorf die Niedersachsen-Schulferien gelten.
Suche nach einer eigenen Identität
Gefühlt ist man hier eben noch in Hamburg, am Rand zwar, aber man wohnt auch nicht anders als im Nachbarort Fischbek, der schon ein Hamburger Stadtteil ist. Doch das macht die Suche nach einer eigenen Identität der Gemeinde auch schwierig. Und schon die Ausgangslage war nicht einfach für Neu Wulmstorf: Der heutige Kernort zwischen Bahnhof und B 73 war eigentlich Wiesen- und Weideland der Bauern aus Wulmstorf und Daerstorf, zwei Dörfern, die heute Ortsteile der Gemeinde sind. Im 19. Jahrhundert bauten dort Knechte oder Abkömmlinge eigene Hofstellen auf, die zusammen dann als „Neu Wulmstorf“ bezeichnet wurden.
Der eigentliche erste große Schub hin zu einer geschlossenen Siedlung kam erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Flüchtlinge aus den östlichen Teilen des Landes auf ehemaligem Truppengelände südlich der B 73 mit viel gemeinschaftlicher Arbeit und Selbsthilfe eine neue Heimat bauten: Reihen- oder Doppelhäuser vor allem. Breslauer Straße, Königsberger Straße, Pommernweg–– so heißen die Straßen hier, die an die Herkunft der neuen Bewohner erinnern sollten.
Neue Schulen und ein neues Rathaus
Noch immer gibt es den Verein der „Heidesiedler“, wo nachfolgende Generationen den alten Zusammenhalt pflegen. Hier gab es zunächst auch das erste kleine Geschäftszentrum des Ortes, das sich dann im Laufe der Jahrzehnte aber immer mehr nach Norden Richtung Bahnhofstraße verlagerte. „Nach unten“, wie es bei den Heidesiedlern noch heute heißt.
Als Startschuss für diese Entwicklung – die den Eigentümern der Weiden gutes Geld brachte –– baute Neu Wulmstorf vor jetzt gut 30 Jahren dort zunächst neue Schulen, dann ein neues Rathaus mitten auf die Wiese. Aus dem alten, zentralen Sportplatz sollte ein Marktplatz werden: mit mäßigem Erfolg: Heute gibt es dort zwar eine gute besuchte Eisdiele und auch einen beliebten Wochenmarkt, architektonisch geprägt wird das „Marktplatz Center“ aber von einem seit Monaten leerstehenden Pflegeheim und einem großen Sonderpostenmarkt.
Neues Zentrum ist noch ausbaufähig
Das neue Zentrum ist also, um es freundlich zu formulieren, noch ausbaufähig, um wirklich Identifikationsort der jungen Gemeinde zu sein. Nach den vielen Jahren des Wachstums, so scheint es, braucht Neu Wulmstorf wohl erst einmal Zeit für eine Konsolidierung.
Das sieht auch Bürgermeister Rosenzweig so: Und zwar aus finanzieller Sicht. Das rasche Wachstum der Bevölkerung überfordere mittlerweile die Finanzlage der Gemeinde. Immer mehr Kitas muss sie bauen, die Schulen werden mit Millionenaufwand vergrößert oder auch ganz neu gebaut. Straßen sind erforderlich, Reparaturen an Wegen und Straßenlampen.
Hallen- und Freibad sind stark sanierungsbedürftig
Hallen- und Freibad sind stark sanierungsbedürftig: Die gesamte Infrastruktur hängt der rasanten Entwicklung hinterher und jetzt schon verzeichnet die Gemeinde ein Millionendefizit im Haushalt. Denn bis mit mehr Einwohnern auch mehr Einkommenssteueranteile in die Gemeindekassen fließen, dauert es in der Regel wegen der Berechnungsgrundlagen ein paar Jahre.
„Langsam, langsam“, warnt der Bürgermeister daher schon seit Jahren an die Adresse der Kommunalpolitik. Für mehr Wachstum fehle derzeit das Geld, sagt er. Doch in der Politik scheint die Goldgräberstimmung der vergangenen Jahre ungebrochen, bei allen Fraktionen. Gegen die Stimme des Bürgermeisters beschloss der Gemeinderat kürzlich wieder eine Änderung des Flächennutzungsplanes.
Mit dem Ziel weitere Wohnbauflächen auszuweisen. Nicht mehr im Kernort, der ist mittlerweile an seine Grenzen zwischen Moorgürtel und Landesgrenze gestoßen. Jetzt richtet sich der Blick auf die Dörfer der Gemeinde. Neu Wulmstorf, so sieht es aus, wird also kräftig weiterwachsen. Trotz aller Warnungen.