Nenndorf. Dass ein Pastor vor 30 Jahren Jugendliche missbrauchte, erschütterte die Kirchengemeinde. Katharina Behnke setzt sich für die Aufarbeitung ein.

Übrigens… Dieses Wort hat Katharina Behnke in den vergangenen Monaten häufig gehört. Es erklang nach Gesprächen mit Gemeindemitgliedern zu unterschiedlichen Themen und Anlässen, die Pastorin war schon auf dem Weg zur Tür. Und dann erzählten ihr die Menschen von teilweise lang zurück liegenden Beobachtungen und Eindrücken, Schuldgefühlen und eigenen Missbrauchserfahrungen.

„Immer mehr Menschen hier stellen sich die Frage nach Täter und Opfer neu“, sagt die Pastorin der Kreuzkirche Nenndorf, die heute zur evangelischen Kirchengemeinde Rosengarten gehört. Dort hatte der inzwischen verstorbene Pastor Jörg Deneke in den 1980er- und 1990er-Jahren mehrere Konfirmandinnen missbraucht. Drei Frauen sind der Kirche mittlerweile namentlich bekannt. Eine von ihnen machte den Missbrauch im Sommer dieses Jahres öffentlich. An die Landeskirche Hannover hatte sie sich bereits 2015 gewandt, Katharina Behnke und ihre Kollegin Dorothea Blaffert aus Klecken waren seit drei Jahren informiert und im Austausch mit der Frau.

Diese war 15 Jahre alt, als der Missbrauch begann, und sie blieb über mehrere Jahre abhängig von dem Pastor. Dass dies nicht nur eine schwierige Beziehung, sondern sexualisierte Gewalt war, wurde ihr selbst erst viele Jahre später klar. Auch auf viele Leute in der Gemeinde habe es damals offenbar so gewirkt, als bleibe die Jugendliche freiwillig bei dem als fortschrittlich und offen geltenden Pastor. Rechtlich gälten Übergriffe, die in einem verletzlichen Alter des Opfers beginnen, auch über den 18. Geburtstag hinaus als anhaltender Missbrauch, erklärt Katharina Behnke. „Dass Sex eines Erwachsenen mit einer 15-Jährigen niemals einvernehmlich ist, diesen Gedankenschritt haben die Leute damals nicht vollzogen. Das setzt erst jetzt ein.“

Die Nenndorfer Kreuzkirche gehört  heute zur Kirchengemeinde Rosengarten.
Die Nenndorfer Kreuzkirche gehört heute zur Kirchengemeinde Rosengarten. © Lena Thiele

Auch mit dem Wissen von heute stellten sich allerdings viele Menschen automatisch die Frage, ob das Opfer nicht doch selbst etwas zu seiner Lage beigetragen habe. Das hat die Pastorin in ihren Gesprächen immer wieder erfahren. „Meine erste Reaktion darauf war: Ich will sowas nicht hören. Aber es nützt ja nichts. Nur geduldiges Erklären und Zuhören bewirkt ein Umdenken.“ In ihren Gesprächen hat Katharina Behnke aber auch viele verständnisvolle und selbstkritische Reaktionen erlebt. Eltern von damaligen Konfirmanden, frühere Mitglieder des Kirchvorstandes und andere Erwachsene fragten sich, was sie damals hätten merken oder tun müssen. Einige hätten auch Versuche unternommen, auf das übergriffige Verhalten des Pastors aufmerksam zu machen, seien aber gescheitert.

„Es ist wichtig, dass der Missbrauchsfall aufgearbeitet wird“

Dass sich das Ansehen des Pastors so lange habe halten können, habe auch an seiner Art gelegen, meint Katharina Behnke, die seit elf Jahren Pastorin in Rosengarten ist. Sie lernte Deneke in ihrer Zeit in Buchholz kennen, als dieser bereits nach Tostedt gewechselt war. „Er hatte ein großes Charisma. Und er hat polarisiert. Es gibt Leute, die ihn toll und anregend fanden. Und welche, die ihn furchtbar und arrogant fanden. Und nichts dazwischen. Es war ein heftiges Ringen um konservative und moderne Ansichten.“ Diese Gespaltenheit habe dem Pastor in die Hände gespielt. Kritiker seiner Methoden liefen Gefahr, als spießig zu gelten. „Die auseinander strebenden Linien in der Gemeinde haben Jörg Deneke sehr genützt. In diesem Graben konnte er sich frei entfalten.“

Dass er nach zehn Jahren Nenndorf verließ, hatte der Pastorin zufolge auch nach heutiger Kenntnis nicht mit Hinweisen auf Missbrauch zu tun. Offenbar hätten sich vielmehr die konservativen Gemeindevertreter durchgesetzt, die seine Art ablehnten. Es kam eine Regel zum Tragen, nach der ein Pastor ohne Angaben von Gründen nach zehn Jahren in eine andere Gemeinde versetzt werden kann.

Bis heute finden sich Spuren von ihm in seiner früheren Kirchengemeinde. So hatte Deneke damals begonnen, mit den Konfirmanden kleine Gebetbänke zu bauen, die die Jugendlichen im Unterricht und beim Gottesdienst nutzten. Diese Tradition ist erhalten geblieben. Auch die langen Freizeiten während des Konfirmandenunterrichts gibt es noch, allerdings geht es nicht mehr für drei Wochen nach Südtirol. Natürlich sei über die Jahre auch vieles an neue pädagogische Richtlinien angepasst und auch aussortiert worden, sagt Katharina Behnke. „Aber einiges von ihm hat überdauert. Mit dem heutigen Wissen ist es manchmal merkwürdig, diesen Dingen zu begegnen.“

Es sei wichtig, dass der Missbrauchsfall aufgearbeitet werde, sagt die Pastorin. Zwar könne nie ausgeschlossen werden, dass ein vergleichbarer Fall auftrete, aber die Menschen könnten anders reagieren als damals. In ihren Gesprächen merke sie, dass der Prozess des Umdenkens nicht einfach sei, aber voranschreite. „Die Leute müssen sich ihr Weltbild zurechtrücken.“

Pastorin kann Eindruck einer undurchsichtigen Struktur nachvollziehen

Die damalige Konfirmandin setzt sich heute intensiv für eine Aufarbeitung innerhalb Landeskirche Hannovers und eine Verbesserung der Kirchenstrukturen ein. Vor allem kritisiert sie, dass es Betroffenen viel einfacher gemacht werden müsse, die richtigen Ansprechpartner zu finden, die ihnen zuhören und kompetent zur Seite stehen.

Katharina Behnke kann diesen Eindruck einer undurchsichtigen Struktur nachvollziehen. Die Kommunikation mit der Landeskirche sei bei diesem Thema nicht immer einfach gewesen. E-Mails gingen hin und her, ohne dass es einen wirklichen Fortschritt in der Sache gab. „Irgendwann habe ich mich gefragt, wer denn das Ganze nun in der Hand behält. Niemand schien wirklich zuständig und mit Kompetenzen ausgestattet zu sein, etwas entscheiden zu können.“ Immerhin gebe es mittlerweile zwei Präventionsbeauftragte. Damit die notwendigen Entscheidungen getroffen werden könne und nichts versandet, ist aus ihrer Sicht allerdings die Schaffung einer Stabsstelle für die Aufarbeitung notwendig. Mit dieser Forderung seien sie bei der Landeskirche auf Gehör gestoßen.

Die Pastorin rechnet damit, dass sich früher oder später weitere Opfer melden werden. Der Entschluss, anderen Menschen von einem Missbrauch zu erzählen, brauche oft viele Jahre um zu reifen. „Wichtig ist, dass die Betroffenen jetzt ein Vorbild haben. Sie sehen, dass es auch verständnisvolle Reaktionen gibt, dass die Schuld nicht mehr so leicht beim Opfer gesehen wird. Der Blick hat sich geändert.“

Informationsabend zur Prävention

Warum erst jetzt? Auch diese Frage soll bei einem Informationsabend zum Thema „Darüber sprechen. Information und Prävention zum Thema sexueller und emotionaler Missbrauch“ behandelt werden. Im ersten Teil wird die unabhängige Beraterin Claudia Chodzinski verständlich machen, warum Betroffene auf eine bestimmte Weise handeln. Warum melden sie sich erst viele Jahre später, oft nach dem Tod des Täters? Warum hilft es, darüber zu sprechen? Wie funktioniert Aufarbeitung?

Um Schutz vor Missbrauch geht es im zweiten Teil: Simona Wriede vom Kinderschutzbund informiert über Prävention und das Erkennen von Missbrauch. Zudem gibt es Informationen von der Beratungsstelle für von Gewalt betroffene Frauen und Mädchen, vom Präventionsrat zu Ansätzen in Kitas und Schulen sowie von der Kinder- und Jugendarbeit Rosengarten. Im Anschluss können Fragen gestellt werden. Die Veranstaltung der Kirchengemeinde, des Präventionsrats und des Bündnis für Familie Rosengarten sollte im November stattfinden, wurde nun jedoch wegen der Corona-Pandemie verschoben. Der neue Termin wird im Internet bekannt gegeben: www.kirche-rosengarten.de