Kiel. SPD-Fraktion will das schmerzliche Ergebnis in „allen Dimensionen analysieren“ – und verschiebt die geplante Vorstandswahl.
In der Nord-SPD gibt es eine neue Zeitrechnung: Die alte galt bis Sonntagabend, 18 Uhr – seither gilt die neue. Und in der ist nichts mehr wie es war. Die Partei von Björn Engholm und Heide Simonis hat bei der Landtagswahl die wohl schmerzlichste Niederlage aller Zeiten in Schleswig-Holstein erlebt.
Nicht nur, dass die Sozialdemokraten jemals auch nur annähernd so schlecht abgeschnitten hätten, sie verloren auch noch Platz 2 an die Grünen. Spitzenkandidat Thomas Losse-Müller räumte im Gespräch mit dem Abendblatt denn auch eine „bittere und sehr enttäuschende Niederlage“ ein. Es sei ihm (als „Gesicht der Kampagne“) und der Partei nicht gelungen, sich mit den SPD-Themen gegen die Popularität des beliebten Ministerpräsidenten durchzusetzen.
Landtagswahl SH: SPD neu in der Opposition
Während Grüne und FDP jetzt darum buhlen, wer mit Daniel Günther koalieren darf, bleiben der SPD nichts als weitere fünf Jahre Opposition. Und das ist „Mist“, wie man vom früheren SPD-Chef Franz Müntefering weiß. Noch ist nicht einmal sicher, ob der SPD die Rolle der Oppositionsführerin zufällt, oder ob sie sogar diese Aufgabe noch den Grünen überlassen muss.
Und so rumort es. Nach der Kritik des langjährigen Parteichefs Ralf Stegner („Debakel“) hat seine Nachfolgerin, Parteichefin Serpil Midyatli, die für Dienstag geplante Wahl des Fraktionsvorstandes erst einmal abgesagt. In der Rumpftruppe herrscht Unruhe. Dezimiert von 21 auf 12 Abgeordnete, muss die SPD ihre Arbeitsstruktur auf den Kopf stellen. So sagte Martin Habersaat – er ist der einzige SPD-Abgeordnete für Stormarn und Herzogtum Lauenburg – dem Abendblatt: „Wir müssen unsere komplette Organisation umstellen, bisher haben wir beispielsweise sieben Arbeitskreise und auch Regionalgruppen.“
Nicht mal Stammwähler wählten die Partei
Jetzt, bei der Wahl am Sonntag, hat die SPD keinen einzigen der 35 Wahlkreise gewinnen können. Auch hier schnitten die Grünen deutlich besser ab: Sie holten in Kiel gleich zwei und in Lübeck ein Direktmandat; der Rest ging an die CDU. In Rendsburg-Eckernförde verlor Losse-Müller im direkten Aufeinandertreffen haushoch gegen Daniel Günther; am Kieler Ostufer unterlag Serpil Midyatli der ziemlich unbekannten Dolmetscherin Seyran Papo von der CDU. Dazu muss man wissen: Kiel-Ost galt über Jahrzehnte als sichere Sozi-Bank.
Mit ihren 16 Prozent Zweitstimmen hat die SPD noch nicht einmal ihr Kernklientel überzeugen können. Ein Teil der Stammwähler blieb zu Hause, der andere machte das Kreuzchen woanders. „Die SPD verzeichnet Verluste in alle Richtungen. Am größten sind die Verluste in Richtung der CDU mit 61.000 Stimmen. An die Grünen gibt die SPD 37.000 Stimmen ab, an den SSW verliert sie 14.000, und 27.000 ehemalige Wählerinnen und Wähler der SPD haben an dieser Wahl nicht teilgenommen. Die SPD verliert in allen Bevölkerungsgruppen in ähnlicher Größenordnung“, analysiert die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung.
SPD stehe für soziale Gerechtigkeit
Die SPD hat 11,3 Prozentpunkte eingebüßt. Das ist bis auf eine Stelle hinter dem Komma genau das, was die CDU gewonnen hat. Noch eine Zahl, um das Debakel komplett ermessen zu können: Gegenüber der bisher schlechtesten Landtagswahl für die SPD in Schleswig-Holstein überhaupt, das war 2009 unter Stegner, hat sie nochmals fast zehn Prozentpunkte eingebüßt. Und das, obwohl die Partei Die Linke mal wieder scheiterte. Mehr Konkurrenz für die SPD auf dem linken Flügel hat sich da mit dem SSW aufgetan, der mit 5,7 Prozent das beste Ergebnis seit 1950 feierte.
In einer der Umfragen von Infratest dimap wollten die Demoskopen von den Schleswig-Holsteinern wissen, wer wo am kompetentesten ist. Nur einmal landete die SPD auf Platz 1: bei der Frage, welche Partei am ehesten für soziale Gerechtigkeit stehe. „Zusammenfassend profitiert die CDU von der Zugkraft des Ministerpräsidenten, dem Vertrauen in die Problemlösungskompetenz und der Zufriedenheit mit der geleisteten Arbeit … Die SPD konnte hingegen weder thematisch noch personell überzeugen“, analysierte die Adenauer-Stiftung. Losse-Müller sieht das so: „Jamaika hat lange zusammengestanden, dadurch hat sich keine Wechselstimmung aufgebaut“, sagte der SPD-Spitzenkandidat.
Das SPD-Ergebnis: Das reinste Debakel
Auch der Kieler Politikwissenschaftler Wilhelm Knelangen nennt das SPD-Ergebnis ein „Debakel“. Offensichtlich habe die Zustimmung kurz vor der Wahl nochmals nachgelassen. Kandidat Losse-Müller nennt das Absacken der SPD gegenüber den Umfragen und das Vorbeiziehen der Grünen auf Platz 2 den „letzten, besonders schmerzhaften Swing“. Aber wie kam es zu diesem Swing?
Politikwissenschaftler Knelangen sieht dafür zwei Gründe: Der SPD sei es nicht gelungen, einen „Mobilisierungseffekt“ herbeizuführen, und es habe ihr auch eine überzeugende Machtperspektive gefehlt. Die Partei habe nach der Wahl 2017 in der Opposition lange gebraucht, eine „Haltung zu Jamaika“ zu entwickeln, sagte er. Und dass es nicht gelungen sei, den Menschen im Norden schon früh in der Legislaturperiode zu vermitteln, warum es gut wäre, das nächste Mal die Regierung abzuwählen.
Das kann man Losse-Müller nicht vorwerfen – Parteichefin Midyatli hatte den langjährigen Grünen im Sommer erst „aus dem Hut gezaubert“. Mit dessen Nominierung habe die SPD quasi versucht, sich neu zu erfinden und ein gutes und anspruchsvolles Programm zu präsentieren, sagte Knelangen. „Nur ist die Partei damit nicht durchgedrungen.“
Das Wahlprogramm der SPD war zweigeteilt. Auf der einen Seite standen Klassiker wie die Forderung nach einer Mietpreisbremse, nach kostenlosen Tablets für Schüler oder einer gebührenfreien Kita, auf der anderen die „ganz klare Orientierung an der Notwendigkeit des Klimawandels“, wie Knelangen sagte. Nur: „Diese Zweiteilung hat nicht funktioniert.“ Der Wahlkampf war leise, fast still, fair.
SPD nimmt sich Zeit zur Analyse
Die Kandidaten gingen nach zwei Jahren Pandemie und jetzt in Kriegszeiten anders miteinander um als sonst vor Wahlen. Die „Zeit“ beschrieb das knapp: „Früher war mehr Kotzbrocken.“ Der Wissenschaftler drückt das etwas eleganter aus, wenn Knelangen eine „gewisse Beißhemmung“ bei Thomas Losse-Müller feststellt, dem eher unbekannten Kandidaten. Dessen Problem: Wenn er mal Daniel Günther und die Arbeit von Jamaika deutlicher attackierte, griff er damit gleichzeitig seine einzige Machtoption an – die Grünen. Und so war es in den Triellen dann meist die grüne Spitzenfrau Monika Heinold, die sich gezwungen sah, gegen Losse-Müller zurück zu keilen.
Und wie geht es jetzt weiter? Zunächst will die SPD-Fraktion das Wahlergebnis „in allen Dimensionen analysieren. Dafür nehmen wir uns die notwendige Zeit“, sagte Losse-Müller, der sich als Landtagsabgeordneter vor allem um die großen Zukunftsthemen von Schleswig-Holstein kümmern will. Das waren schon seine Wahlkampfthemen: Digitalisierung und industrielle Transformation.