Hamburg. Vom durchtrainierten Kerl zum gebrechlichen Mann: In der Median-Klinik werden Patienten therapiert, die besonders schwer erkrankten.

Zwei Bahnen ist er an diesem Morgen geschwommen. 28 Meter. Und war stolz. Sehr stolz. „Ich habe mir gedacht, du kannst es also doch noch“, sagt Oleg Nowak (50). Am Tag zuvor war der Physiotherapeut aus Baden-Württemberg nicht einmal von der Gymnastikmatte wieder alleine hochgekommen: „Da habe ich ein paar Tränen verdrückt.“ Dann deutet er auf seine Beine: „Schauen Sie, hier hatte ich eine richtig ausgebildete Muskulatur Und ich war ein exzellenter Schwimmer.“ Damals. Vor Corona.

Als ihn Sanitäter vor einer Woche in die auf Lungenkrankheiten spezialisierte Median-Reha-Klinik in Heiligendamm einlieferten, war er nach dem zehnstündigen Transport im Krankenwagen so geschwächt, dass seine Kräfte nicht einmal mehr für den Rollstuhl reichten. Auf einer Trage wurde er ins Zimmer gebracht. Nun wagt er erste Schritte ohne Rollator. Ein erster Erfolg im Kampf gegen die Folgen seiner Viruskrankheit.

Aus ganz Deutschland kommen Patienten wie Oleg Nowak (Name geändert, die Red.) nach Heiligendamm, in die weiße Stadt am Meer. Weltweit bekannt wurde das älteste deutsche Seebad durch den G-8-Gipfel im Juni 2007 – unvergessen die Fotos der Regierungschefs in dem XXL-Strandkorb: Angela Merkel eingerahmt von Wladimir Putin und George W. Bush.

Wochenlang kämpfte der Therapeut um sein Leben

13 Jahre später dürfen nur Gäste des Grand Hotels den kürzesten Weg zur Seebrücke nehmen. Allein für ausgewählte Patienten der Rehaklinik macht das Management der Luxusherberge Ausnahmen. Deshalb darf Oleg Nowak mit seiner Chipkarte die Pforte passieren. Lieber heute als morgen würde er die Karte wieder abgeben und wie die anderen Tagesgäste durch das benachbarte Wäldchen zum Strand wandern. Doch noch wäre dieser Spaziergang zu anstrengend für ihn.

Der gebürtige Pole gehört zu den vielen Therapeuten, Pflegekräften und Ärzten, die sich bei ihrer Arbeit angesteckt haben. Nowak erwischte es, als er einen 90-Jährigen nach einer Hüftgelenkoperation im Krankenhaus mobilisierte – der hochbetagte Mann war bei der Krankenhausaufnahme nicht getestet worden, da er keine Corona-Symptome zeigte.

Oleg Nowak (Name geändert) erkrankte lebensbedrohlich.
Oleg Nowak (Name geändert) erkrankte lebensbedrohlich. © Peter Wenig | Peter Wenig

Als sich Nowak zwei Tage später fiebrig fühlte und ihm die Glieder schmerzten, glaubte er zunächst an einen harmlosen grippalen Infekt. Doch dann verschlechterte sich sein Zustand rapide. Nowak ließ sich testen, kam auf die Corona-Intensivstation. Wochenlang kämpften die Ärzte um sein Leben, öffneten schließlich seine Luftröhre, um ihn zu beatmen. Nowak weiß dies alles nur aus Erzählungen. Er erinnert nur seine Albträume: „Einmal habe ich geträumt, ich wäre nach Thailand abgeschoben worden, weil die Behandlung dort billiger ist. Ein anderes Mal wurden wir Patienten mitten in der Nacht aus unseren Betten geholt und im Keller an eine Treppe gefesselt.“

Wochenlange künstliche Beatmung ist eine große Belastung

Dr. Jördis Frommhold, Chefärztin der Median-Klinik, kennt solche Berichte nur zu gut: „Was Patienten bei einer mitunter wochenlangen künstlichen Beatmung durchgemacht haben, kann man sich kaum vorstellen. Gerade in den kurzen Aufwachphasen hätten sie die Nähe ihrer Angehörigen gebraucht. Das ging aber nicht durch die Corona-Auflagen. Viele leiden durch die lange Isolation unter schweren Albträumen.“

Die Medizinerin, aufgewachsen in Bünde bei Bielefeld, hat lange die Notaufnahme eines Krankenhauses geleitet, Reha-Kliniken fand sie eher langweilig. Beworben hat sie sich bei der Median-Klinik dennoch, weil sie die Therapie von schwer kranken Lungenpatienten reizte. Als Jördis Frommhold die Bilder aus Italien von Covid-19-Patienten sah, ahnte sie, dass ihre Klinik nun mehr denn je gebraucht würde.

In Turnschuhen eilt sie nun von Termin zu Termin. Die Internistin und Lungenfachärztin kümmert sich um Patienten, führt Vorstellungsgespräche, telefoniert mit Kolleginnen und Kollegen aus Akutkrankenhäusern, die sich nach freien Reha-Plätzen erkundigen. Zwischendurch hält sie Vorträge und gibt Interviews – inzwischen gilt die Medizinerin in Deutschland als Expertin für Covid-19-Schwerstkranke. Diese Öffentlichkeitsarbeit ist ihr wichtig, daher bittet sie auch Patienten, offensiv über die Krankheit zu reden. Um auch dem Letzten klarzumachen: Überleben heißt noch lange nicht gesund.

Dichtes Programm

Rund 50 Corona-Betroffene – die meisten mussten auf Intensivstationen beatmet werden – hat Jördis Frommhold inzwischen betreut. Mindestens drei, häufig aber fünf oder mehr Wochen, bleiben die Patienten in der Klinik.

Doch dieser Weg ist hart. Ein Blick in die Tagespläne zeigt, dass die Realität der Median-Klinik nichts gemein hat mit den Klischees über Kuren. In Heiligendamm gibt es weder Kurkonzerte noch gesellige Abendrunden. Um 6:45 Uhr frühstücken die ersten Patienten, dann wechseln im Stundentakt die Therapien. Yoga, Atemtraining, Massagen, Fango, Gymnastik, Sitzungen mit Psychologen. Wer dieses Programm absolviert, will abends nur noch ins Bett.

Die Median-Klinik:

  • Die Median-Klinik Heiligendamm ist spezialisiert auf die Reha von Patienten mit Lungen- oder psychosomatischen Erkrankungen. Kostenträger sind Renten-, Kranken- und Unfallversicherungen.
  • Um die Infektionsrisiken für andere Patienten und für Mitarbeiter zu reduzieren, muss jeder Corona-Patient vor der Aufnahme in Heiligendamm zwei negative Covid-19-Abstriche vorweisen. Zudem darf es keine einschränkenden Vorgaben durch das zuständige Gesundheitsamt geben. Weitere Informationen im Internet unter www.median-kliniken.de. pw

„Am Anfang dachte ich, das reicht alles nicht. Ich habe um ein Gespräch gebeten, um noch mehr machen zu können. Zwei Tage später war ich heilfroh, dass es diesen Termin noch nicht gab. So kaputt war ich“, sagt Christian Kanisius (42), unüberhörbar ein Mann aus dem Revier. Der durchtrainierte Einsatzleiter der Berufsfeuerwehr Gelsenkirchen, einst Torwart in der Verbandsliga, steckte sich im Skiurlaub im österreichischen Ischgl an. Er lag 17 Tage im künstlichen Koma, die Ärzte sahen seine Überlebenschance bei 20 Prozent.

Konzentrationsprobleme sind typisch für Corona

Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er zu schwach, um ein kleines Glas zu halten. Seine Frau musste ihm die Nahrung reichen, die Wendeltreppe in der Wohnung in Marl wurde zu einem unüberwindbares Hindernis. „Aus mir war ein gebrechlicher alter Mann geworden“. sagt Kanisius. Bis zu einer Knieverletzung spielte er als Torwart in einer der höchsten Amateurklassen. „Ich dachte, ich bin als Torwart mental stark“, sagt Kanisius. Doch auch er erlebte Momente der Verzweiflung: „Irgendwann habe ich gedacht, ich werde mein restliches Leben auf Sauerstoffflaschen angewiesen sein.“ Zum Glück sei er nun hier. In Heiligendamm

Kampf um seine Gesundheit: Christian Kanisius will zurück zur Feuerwehr.
Kampf um seine Gesundheit: Christian Kanisius will zurück zur Feuerwehr. © Peter Wenig | Peter Wenig

Inzwischen tritt Kanisius wieder 150 Watt auf dem Ergo, abends dreht er noch Runden auf seinem mitgebrachten Rad. „Er gehört zu den vielen Patienten, die wir eher bremsen müssen“, sagt Jördis Frommhold. Kanisius will wieder zurück zur Feuerwehr, zu Einsätzen wohlgemerkt, nicht an den Schreibtisch. Auch nach 17 Jahren liebt er seinen Job: „Mit voller Kapelle durch die Stadt fahren finde ich immer noch großartig.“ Aber er weiß auch, dass körperliche Fitness allein nicht reichen wird. „Es fällt mir noch schwer, alles gleichzeitig zu verarbeiten, wenn viele Dinge auf einmal auf mich zukommen.“ Das muss sich ändern, im Ernstfall kann das Leben seiner Kameraden von seinen Entscheidungen abhängen.

Die Konzentrationsprobleme sind typisch für Corona. Physiotherapeut Nowak schaut jeden Tag mehrfach auf seinen Plan, weil er sich die enge Taktung nicht merken kann. Die Berliner Finanzbeamtin Ursula Müller (54, Name geändert, die Red.) schrieb „112“ in großen Ziffern auf ein DIN-A4-Blatt, um im Notfall die richtige Nummer wählen zu können: „Ich war so platt, dass ich nichts mehr aufnehmen konnte. Ich habe 16 Stunden am Tag geschlafen.“

Furcht vor Krankenhauskeimen

Ursula Müller zählt zu den Corona-Kranken, die nie in einem Krankenhaus waren und nun dennoch diese Reha dringend brauchen. Sie wollte auch aus Furcht vor einem Krankenhauskeim nicht in eine Klinik, stattdessen stellte sie sich in ihrer Quarantäne bei akuter Atemnot mit ausgebreiteten Armen vor das weit geöffnete Fenster, um nach Luft zu schnappen. Dazu die stechenden Kopfschmerzen und der extreme Husten- und Brechreiz. Als sie nach zwei negativen Tests wieder selbst einkaufen durfte, stand sie hinter einer betagten Frau mit einem Hund an der Fußgängerampel: „Die Oma ist mit ihrem Dackel bei Grün rüber. Ich nicht.“

Der Hausarzt verordnete ihr die Reha. Jetzt, sagt sie, gehe es wieder aufwärts. Langsam, aber die Richtung stimme: „Ich lese schon wieder Zeitung. Und das Essen schmeckt nicht mehr nach durchweichter Pappe.“

Am wichtigsten seien für sie die Atemübungen. „Unsere Patienten müssen das richtige Atmen wieder lernen, sie atmen viel zu flach“, bestätigt Chefärztin Frommhold. Die Fortgeschrittenen machen mittags im Garten der Klinik oder auf der Seebrücke Gymnastik. Doch in den ersten Kliniktagen liegen die meisten auf Yogamatten in einem abgedunkelten Raum, lauschen der Therapeutin, um wieder ihren Atem zu spüren.

Die Seele muss heilen

Und doch kann die Rückkehr in so etwas wie ein normales Leben nur gelingen, wenn auch die Seele heilt. „Ich glaube, ich schaffe es nicht“, kritzelte Oleg Nowak auf einen Zettel, bevor man ihn ins künstliche Koma versetzte. Ein anderer Reha-Patient der Median-Klinik schilderte in den Therapiesitzungen unter Tränen, wie er sich von seinem Vater, der im selben Krankenhaus vergebens gegen das Corona kämpfte, verabschieden wollte. Die Pflegekräfte hüllten den hoch fiebernden Sohn in einen Vollschutzanzug und brachten ihn zu einer Scheibe, damit er seinen sterbenden Papa noch einmal sehen konnte.

Mit Psychologen versuchen die Betroffenen, ihre traumatischen Erfahrungen zu bewältigen. Hinzu kommen oft Zukunftsängste: Werde ich meinem Job noch gewachsen sein? Wie verkraften meine Angehörigen die Erkrankung? Und vor allem: Wie wird es mir in ein, zwei Jahren gesundheitlich gehen?

Coronavirus – die Fotos zur Krise

„Niemand kann seriös einschätzen, welche Folgen die Erkrankung in ein paar Jahren noch haben kann. Wir wissen noch viel zu wenig über das Virus und seine Folgen“, sagt Chefärztin Frommhold. Wird die Lunge wirklich völlig ausheilen? Wie sehr leiden Organe wie Herz und Nieren? Begünstigt Corona Schlaganfälle oder gar Demenz?

Ältere Krebspatientin überstand Corona fast folgenlos

Und natürlich dreht sich zumindest im Unterbewusstsein viel um die Frage: Warum eigentlich ich? „Wir waren zu sechst im Skiurlaub in Österreich. Wir sind in einem Auto hin- und zurückgefahren, haben in derselben Wohnung übernachtet. Drei haben sich nicht einmal angesteckt, zwei haben die Quarantäne in der Sonne auf dem Balkon genossen. Und einer lag im Koma. Das war ich“, sagt Kanisius.

Wahrscheinlich wird niemand dem Feuerwehrmann jemals erklären können, warum ausgerechnet er lebensbedrohlich erkrankte. Kanisius hat mit der oft zitierten Risikogruppe so viel zu tun wie sein Lieblingsverein FC Schalke 04 mit dem Erzrivalen Borussia Dortmund. Jung, Nichtraucher, exzellente Fitness, keine Vorerkrankung. Auch Physiotherapeut Nowak war vor der Pandemie nie ernsthaft krank. Eine ältere Krebspatientin steckte sich im selben Krankenhaus an. Sie überstand Corona fast folgenlos. „Und zu meiner Frau haben die Ärzte gesagt, dass ich nur überlebt habe, weil ich so fit war“, sagt Nowak

Viele haben Angst, dass sie sich erneut anstecken könnten

Dass sich das Virus scheinbar wahllos seine schweren Opfer sucht, macht es psychisch noch schwerer. „Die meisten unserer Patienten leiden unter Lungenkrankheiten, die sich in der Regel über Monate entwickelt haben. Unsere Corona-Patienten kommen dagegen oft aus einem sehr guten Allgemeinzustand, die waren bisher kaum krank“, sagt Jördis Frommhold. Wenn sich binnen weniger Tage, ja mitunter Stunden, das Leben durch einen unsichtbaren Feind in ein Vorher und Nachher teile, sei das kaum zu verkraften.

Zudem belasten die Corona-Patienten die Berichte, dass ihre Immunität offenbar doch nicht so ausgeprägt ist wie anfangs erhofft. „Viele haben Angst, dass sie sich erneut anstecken könnten“, sagt Frommhold. Deshalb akzeptieren auch alle Patienten in Heiligendamm die Maskenpflicht. Niemand muss sie ermahnen, obwohl Corona-Patienten erst in die Reha-Klinik kommen dürfen, wenn sie zweimal negativ getestet wurden. „Ich kann nur sagen, Leute, schützt euch“, sagt Kanisius.

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Wie die Patienten sieht auch Chefärztin Frommhold mit Sorge die Fotos von Partys, wo jede Corona-Regel ignoriert wird. Noch mehr ärgert sich Ursula Müller über die Corona-Leugner: „Wer behauptet, eine Grippe sei doch viel schlimmer, soll nur mal für 24 Stunden durchmachen, was ich durchgemacht habe. Dann würde er das nie wieder sagen.“

Immerhin: In Heiligendamm sind sie nicht allein mit ihren Ängsten. Und allein die Seeluft sorgt für positive Energie. Oleg Nowak liebt den so beschwerlichen Gang zur Seebrücke: „Diese Ostseeluft jeden Morgen einatmen zu dürfen, ist ein Geschenk.“ Wieder atmen können. Endlich wieder richtig atmen.