Sylt. Strandreporter, Teil 3: Zwischen List und Hörnum sind die Strände schöner als an der Ostsee. Sagt auch der Promi-Moderator.
Der Zug rattert über den Damm, Sonne flutet ins Abteil. Und irgendwo hier muss auch der Zauber einsetzen. Langsam packen die Fahrgäste ihre Sachen, Hamburger, Hessen, selbst einige Japaner. Nächster Halt: Westerland. Ich bin als Abendblatt-Strandreporter an die Nordsee gewechselt, zwei knifflige Fragen im Gepäck: Ist Sylt nur das bekannteste oder auch das beste Ferienziel im Norden? Und woraus besteht sein ewig junger Charme genau?
Fragen wir doch die TV-Moderatoren-Legende Gerhard Delling – einfach weil er im Zug gerade neben mir sitzt. Er lächelt und ringt kurz nach Worten. „Es hat in der Jugend angefangen“, sagt er dann beim Aussteigen, eine alte Sporttasche über der Schulter. Sylt sei „noch mal eine ganz andere Welt als die Ostsee“. Was genau? „Es ist auf schöne Weise rauer hier. Das Wasser ist näher auf beiden Seiten. Es ist ein anderes Gefühl.“ Ein paar Tage wird er bleiben, wie so häufig, sagt Delling. Er spurtet davon, als könne er es kaum abwarten, allen irdischen Anstrengungen zu entkommen.
Ich bleibe am Bahnhofsplatz zurück und gehe die Friedrichstraße hinauf. Auch ich habe Erinnerungen an Sylt aus jüngeren Tagen, Ausflug mit bestem Freund und Mutter, viel zu viel Melonenbowle im Irish Pub, Blackout, am nächsten Tag, den besten Crêpe aller Zeiten an der Promenade essen. Süchtig geworden nach der Insel bin ich nicht.
Gefühl, dass auf Sylt alles möglich ist
Das Gefühl, dass auf Sylt alles möglich ist, kommt trotzdem schnell wieder. Der Crêpe-Stand verkauft wie früher noch Glück am Eingang der Promenade. So wie fast alles noch schneeweiß und aus Holz zu sein scheint und Westerland aussieht, als hätte man die Hauptstadt eines wohlhabenden Landes auf Inselformat geschrumpft. Galerien, Restaurants, Markengeschäfte, stylische Hotels, ein Kino. Rundum-Sorglos-Paket.
Selbst wer nichts kauft, schnappt etwa beim Juwelier die Sylter Alltagsgeschichten auf (Abiturient: „Ich brauche dringend eine schöne Uhr für meine Mutter.“ Verkäuferin: „Okay, mag sie Bling-Bling?“ Abiturient: „Ja, auch.“ Verkäuferin: „Folgen Sie mir schnell!“). Was jenseits des Hindenburgdamms liegt, interessiert bald nicht mehr.
Belebt ist es auch unterhalb der Promenade, teils brechend voll, Menschen stehen vor Restaurants und sehen anderen Menschen lange beim Essen zu, bis sie endlich einen Tisch bekommen. Der Rezeptionist meines Hotels trägt lässig Cappie, aber macht dazu klare Ansagen. „Das hat natürlich politische Gründe, dass Sylt so boomt“, sagt er. „Deutsche haben bei Krisen in aller Welt das eigene Land wiederentdeckt.“ Auch der Klimawandel leiste bereits seinen Anteil.
Eldorado an Strandsportarten
Auf der Insel wurden 2017 bereits eine Million mehr Übernachtungen registriert als drei Jahre zuvor. Allein Einzelhandel und Gastronomie nehmen im Schnitt etwa zwei Millionen Euro pro Tag ein. Im Gegenzug stiegen auch die Immobilienpreise seit der Jahrtausendwende um 140 Prozent. Alt-Sylter warnen öffentlich davor, dass sich die Einheimischen ihre Insel immer weniger leisten können: „Da findet man im Winter niemanden mehr zum Schnacken auf der Straße.“ Geht es nach dem Rezeptionisten, einem geborenen Sylter, ist die Star-Stellung der Insel kein Wunder. „Die Auswahl, die Natur, das Wasser ist einfach besser als anderswo. Schauen Sie sich einfach um.“ Auch der Bürgermeister betonte mehrmals, dass Sylt trotz berechtigter Sorgen vor einem Ausverkauf weiterhin der „geborene Gastgeber“ sei. Das „Mia san mia“ ist zwar schon nach München vergeben, aber Sylt atmet sein eigenes „wi sünd wi“ op platt.
Ich gehe zum Praxistest an den Strand, Schuhe aus, und ja: Der Sand ist einfach einen Hauch feiner und schöner als an der Ostsee, gleichzeitig verteilen sich die Massen deutlich besser als in Timmendorf. Sich im Wasser zu drehen, auf das Wimmelbild an Land und die grünen Dünenstreifen weiter nördlich zu blicken, ist unbezahlbar. Der „Fun Beach“ ist ein Eldorado an Strandsportarten; eine Jungfamilie aus Hessen schwärmt mir auf Nachfrage vor, dass sie jedes Jahr nach Westerland komme. „Wir können nicht mehr ohne die Insel.“ Sylt bedeute Ruhe und Vertrautheit. Wie Verliebte eben reden.
Seltsame Mischung an Eindrücken
Dafür ist es dann auch etwas teurer, wie die Ärzte einmal sangen – unter zwei Euro für eine Kugel Eis geht fast nichts, unter 200 Euro für ein Hotelzimmer wenig. Der Fischgigant Jürgen Gosch, der einst aus dem Bauchladen verkaufte, werkelt noch immer an der Eröffnung der neuen Fläche an der Friedrichstraße, ein Schild mit der Aufschrift „Frühjahr 2019“ ist durchgestrichen und die Baustelle leer.
Von Sylt-Fans aus dem Kollegenkreis erreichten mich Beschwerden, dass die Qualität des Essens auf Sylt mit steigender Nachfrage immer mehr abnehme. Die Bilanz meiner drei Mahlzeiten auf Sylt wird am Ende lauten: 55 Euro bezahlt, Geschmack zweimal okay, einmal lecker (Café Extrablatt). Zwar kommen neue kleine Glanzlichter hinzu, wie das Café Kurve in Braderup (danke an die Leserin Yvonne Scharun). Ganz sicher ist Sylt weder doppelt so schön noch doppelt so köstlich, wie es die Preise mitunter beinahe vormachen.
Wo wir schon beim lieben Geld sind, entscheide ich mich für einen Trip in das Hauptquartier des etepetete: Kampen. Entlang der „Whiskymeile“ kann einen eine seltsame Mischung an Eindrücken durchfahren. Die abgezirkelte Idylle der Reetdachhäuser. Überall Höflichkeit und Anstand. Aber auch Mitleid für Menschen, deren Äußeres ein wenig an Wachsfiguren erinnert.
Es sind viele gestriegelte Jugendliche dabei, die Mädchen schleppen Parfümwolken mit sich wie ihre Mütter. „Wer wirklich Geld hat, gibt damit im Urlaub nicht an“, hat der Rezeptionist gesagt. Als Normalbürger kann man Kampen für das feine Restaurant Manne Pahl aufsuchen oder den Ort als exotisches Ausflugsziel sehen; wie man auch die Männer ertragen kann, die sich in Westerland im Polohemd von Camp David wie Dieter Bohlen fühlen wollen, aber trotzdem noch Geschäftliches in ihr Handy bellen, während sie in den Gassen sitzen.
Raue Schönheit
Zudem fängt direkt hinter den edlen Bars die raue Schönheit an, die Gerhard Delling gemeint hat. Die Natur am Roten Kliff ist spektakulär – am Ellenbogen im Norden abwechselnd rau und karibisch, auch wenn man dort überwiegend nicht schwimmen darf. List bleibt die skandinavischste Siedlung der Insel.
Als ich auf dem Rückweg im Bus höre, wie eine Familie „jetzt auch noch unbedingt die Delfine sehen“ will, kommt mir zumindest eine Phrase als Erklärung für den Mythos Sylt in den Sinn: Hier ist für jeden etwas dabei, wirklich. Mit einer Ausnahme: Wer auch das menschlich Unperfekte, lässig Improvisierte sucht, hat auf Sylt eine schwere Zeit. Die Geschäfte und Gastronomen pflegen lieber, was man kennt und schätzt, möglichst bis zur Perfektion. Für gute Ideen, die Zeit brauchen, ist die Miete zu hoch. Am nächsten Morgen ruckelt das Taxi über die Straße in Richtung Hörnum.
Letzte Blicke auf den Leuchtturm und die dort laufenden Menschen, bevor die Fähre nach Amrum ablegt. Ich denke an den Star-Gastronomen Jürgen Gosch, der eine weitere Verbindung nach Sylt gefordert hat, um die Nerven der Touristen zu schonen; auch ein Mann in meinem Abteil auf der Hinreise zuckte zusammen, als eine kleine Verspätung durchgesagt wurde. Es ist das größte Problem der fast perfekten Ferieninsel, dass man noch nicht perfekt hin- und wegkommt. Ob es wirklich Sinn hat, noch eine weitere Brücke zu bauen? Ich weiß es nicht. Aber diesmal werde ich die Insel etwas vermissen!
Mein Fazit: Sylt bleibt ein schönes, abwechslungsreiches Urlaubsziel für fast alle Urlaubertypen – aber nicht für jeden Geldbeutel – und bewegt sich auf einem schmalen Grat zur Massenabfertigung.
Morgen: Amrum, die Südseeinsel der Nordsee