Pellworm . Können Klagen das Klima retten? Eine Familie aus Pellworm will es versuchen. Ein Ortsbesuch.

Silke Backsen steht auf dem acht Meter hohen Deich von Pellworm und schaut durch ihr Fernglas Richtung Meer. Ihre Füße stecken in wetterfesten Schuhen, die blaue Jacke hält trocken und warm. Die 49-Jährige weiß, wie man sich vor dem Wetter schützt – zumindest im Hier und Jetzt. Mit bloßem Auge ist das Wasser weit entfernt, gerade ist Ebbe. Doch der Schein trügt.

Der Deich, er ist für die Nordsee-Insel Pellworm eine Art Lebensversicherung. Ein paar Hundert Meter dahinter steht ein rotes Backsteinhaus, der Weg zur Tür ist von Narzissen und Sträuchern gesäumt. Hier sind Silke Backsen, ihr Mann Jörg und ihre Kinder Sophie, Paul, Hannes und Jakob zu Hause. Als Bio-Bauern züchten sie Rinder, halten Schafe und bauen Getreide an. Der Hof liegt rund einen Meter unter dem Meeresspiegel. Steigt dieser durch den Klimawandel an, tritt das Wasser eines Tages wohl über den Deich – und alles läuft voll wie eine Badewanne.

Der Klimawandel koste die Backsens jetzt schon Geld

„Wir stehen an einem Scheideweg“, sagt Silke Backsen. „Ein weiteres Geradeaus wird es nicht mehr geben.“ Klimaforscher geben ihr recht. Der Weltklimarat prognostiziert, dass der Meeresspiegel Ende des Jahrhunderts bis zu 77 Zentimeter höher liegen dürfte als Ende des vorherigen Jahrhunderts – und das ist schon eines der optimistischen Szenarien.

Dass das Klima verrückt spielt, kostet die Backsens schon jetzt Geld. 2017 hörte es nicht auf zu regnen, und alles stand unter Wasser. Dann kam der Hitzesommer 2018, der alles austrocknete. Das hieß: weniger Getreide, zu wenig Futter für die Tiere und große Einbußen.

Damit Menschen wie die Backsens nicht ihre Existenzgrundlage verlieren, müssten drastische Klimaschutzmaßnahmen her. Und nicht nur dafür. Das haben zwar viele in Deutschland erkannt – doch große, effektive Schritte lassen bislang auf sich warten. 40 Prozent weniger Ausstoß des klimaschädlichen Gases CO2 als 1990 – so lautete lange das Ziel, das von mehreren Bundesregierungen bekräftigt wurde. Je näher 2020 nun kommt, desto seltener wird dieses Ziel erwähnt. Stattdessen bekennt man sich zu einem neuen Ziel für 2030, denn das liegt noch beruhigend weit in der Ferne.

Kann eine Familie ein Land zum Handeln zwingen?

Die Backsens wollen das nicht akzeptieren. „Man wacht nicht morgens auf und entschließt sich beim ersten Kaffee, Frau Merkel zu verklagen“, sagt Silke Backsen. Doch zu diesem Schritt hat sich die Familie nach einigen weiteren Tassen Kaffee entschieden. Gemeinsam mit zwei anderen Biobauern-Familien und der Organisation Greenpeace verklagen sie die Regierung. Ihr Vorwurf: Liebe Politiker, ihr haltet eure Versprechen nicht. Die Kläger sehen ihre Grundrechte auf Schutz von Leben und Gesundheit (Artikel 2, Grundgesetz), auf Berufsfreiheit (Artikel 12, GG) und auf Eigentum (Artikel 14, Grundgesetz) verletzt.

Kann eine Familie die Entscheider eines Landes zum Handeln zwingen? Und was bedeutet das für eine Gesellschaft? „Die deutsche Regierung soll nicht mit ihrem Nichtstun davonkommen“, sagt Anike Peters, die bei Greenpeace die Klage betreut. Peters hat Halligen und Inseln abgeklappert, mit etlichen Landwirten vom Festland gesprochen. Mit rund 100 potenziellen Klägern war sie in Kontakt, bis sie die drei Familien traf, die Ja sagten. Ist das Instrumentalisierung? „Das sehe ich nicht so. Alle Kläger wollten aus freien Stücken klagen. Wir ermöglichen das, denn wir haben die finanziellen Mittel, die Ressourcen und das fachliche Know-how.“

Gericht entscheidet, ob die Klage zulässig ist

Seit sie vor einigen Monaten die Klageschrift beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht haben, warten die Kläger. Die Regierung hat das Umweltministerium für zuständig erklärt, eine Kanzlei beauftragt und sich bereits zweimal mehr Zeit erbeten. „Die Klimaschutzanstrengungen Deutschlands haben zwar Fortschritte gebracht, aber noch nicht zum Erreichen unserer Ziele geführt. Uns eint also dasselbe Ziel“, heißt es auf Anfrage aus dem Umweltministerium.

Ob die Klage inhaltlich begründet sei, wolle man den Gerichten überlassen. Nachdem beide Seiten sich schriftlich ausgetauscht haben, wird das Gericht entscheiden: Ist die Klage überhaupt zulässig? Wird es eine Verhandlung geben?

Und: Was bedeutet es für unsere Demokratie, wenn jeder seine Interessen einklagen würde? Wenn kein Vertrauen mehr da ist, dass gewählte Vertreter den Willen der Bürger umsetzen? Fragt man Silke Backsen, ob sie politikverdrossen ist, überlegt sie nicht lange – und nickt. Dabei ist sie Mitglied der Grünen, sogar Gründerin eines Ortsverbands. Das ist für sie kein Widerspruch, sondern ein weiteres Werkzeug ihres Kampfes.

Rückenwind für die Backsens kommt aus Berlin

Aus Berlin, rund 450 Kilometer südöstlich, kommt Rückenwind für die Backsens. Matthias Miersch sitzt als stellvertretender Fraktionschef der SPD im Bundestag. „Wir brauchen gesellschaftspolitisches Engagement, das Politik unter Druck setzt“, meint er. „Es ist ein Weg, der wachrüttelt. Genauso wie die Fridays-for-Future-Bewegung.“

Familie Backsen & Co. als Retter des Rechtsstaats? Nicht alle halten das für eine gute Idee. Der Umweltrechtler Bernhard Wegener von der Uni Erlangen-Nürnberg ist eigentlich bekannt dafür, dass er sich für Klagerechte der Umweltverbände einsetzt. Aber als man ihn zu einer Klimaklage überreden wollte, war ihm klar: Das ist der falsche Weg.

Was wäre, wenn die ganze Insel klagt?

„Die mit den Klimaklagen angestrebte Weltrettung per Gerichtsbeschluss ist juristisch schwer begründbar, im Ergebnis illusorisch und wenigstens potenziell gefährlich“, argumentiert der 54-Jährige in der „Zeitschrift für Umweltrecht“. Wenn Klimakläger Erfolg hätten, müssten Gerichte die Politik in die Schranken weisen und konkrete Ansagen zum Klimaschutz machen. Doch mit dieser „Menschheitsaufgabe“ wären sie maßlos überfordert, meint Wegener. „Gerichte leben davon, dass ihre Urteile beachtet werden“, sagt der Jurist. Aber was sollte ein Gericht tun, wenn ein Klima-Urteil nicht eingehalten wird? „Es kann nicht die Zeit zurückdrehen und auch nicht die Klimapolizei rufen“, urteilt er.

Die Backsens haben ihre Mitbürger eingeladen – zum Erklären und Diskutieren. Es ist ein kühler Abend im Frühling, die Brise fegt über die Insel. Im Danzsool Pellworm sind Holzstühle aufgestellt, in der Mitte ein runder Tisch unter einem Kronleuchter. Tatsächlich füllt sich der Saal bis auf den letzten Platz. Die Pellwormer haben Fragen mitgebracht. „O Gott, was tun die beiden sich da an?“, sei sein erster Gedanke gewesen, erzählt ein älterer Herr. Aber es gibt auch die neu zugezogene Isabelle Sommer, die fragt: „Was wäre, wenn die ganze Insel klagt?“ Kurzes Schweigen. Die Backsens und Ani­ke Peters von Greenpeace sind begeistert.

Pellworm ist eine Insel, die von Jahr zu Jahr leerer wird. Viele Junge ziehen weg, Arbeit und Abwechslung fehlen. Schon ab der Oberstufe gehen die Jugendlichen in Husum auf dem Festland zur Schule. Zu den knapp 1000 „echten Pellwormern“ kommen ein paar Hundert Menschen, die es sich hier nur im Sommer in ihrem Zweithaus gut gehen lassen.

Der Deich wird in den kommenden Jahren erhöht

Es gab eine Zeit, in der die Hoffnung groß war: Pellworm sollte zur Vorzeigeregion werden, die ihre Energie selbst produziert und neue Arbeitsplätze schafft. Ein paar Jahre später braucht die Insel noch immer Strom vom Festland, wirtschaftlich war das Projekt nicht lu­krativ genug. Warum also etwas retten, das ohnehin auf dem Abstieg ist? So schnell wollen die Pellwormer aber nicht aufgeben. Der Deich soll in den kommenden Jahren erhöht und verbreitert werden – auch wenn das die Brutstätten heimischer Vögel zerstören dürfte.

Was würde geschehen, wenn die Backsens und ihre Mitstreiter recht bekämen? Greenpeace hat hohe Erwartungen: Im besten Fall müsste die Bundesregierung dazu verpflichtet werden, alles Mögliche zu tun, um das Klimaziel für 2020 doch noch zu erreichen. Jakob Backsen hätte dazu auch Ideen, etwa den sofortigen Kohleausstieg zu beschließen.

Doch dass die Klage Erfolg hat, halten Juristen wie Wegener für unwahrscheinlich. Der Knackpunkt: Es müsste nachweisbar sein, dass die Grundrechte der Kläger durch das Unterlassen staatlicher Maßnahmen verletzt seien. Strittig ist dabei nicht, ob Schutzmaßnahmen erlassen wurden - sondern nur, ob sie ausreichend effektiv sind. Das dürfte schwer nachzuweisen sein.