Ausspannen mit der Natur liegt an Schleswig-Holsteins Westküste derzeit im Trend. Und: neue Angebote zwischen Büsum und Sylt.

Nur ein paar Hundert Meter von der Hallig Langeneß entfernt im Watt. Drüben ist Föhr zu sehen, einmal nach links gedreht, taucht in der Ferne Amrum mit dem Leuchtturm auf. Diese Weite, der Wind, das Salz in der Luft und diese Stille sind so typisch Nordsee. Stille? Nicht ganz. Denn die gibt es auch in der Einsamkeit nicht.

Gemeint sind nicht die Vogelstimmen und das Geräusch, dieses Schlurp der Gummistiefel, die durch den zähen Schlick waten. Nationalparkranger und Ornithologe Martin Kühn macht bei einer Tour durch das Watt auf etwas anderes aufmerksam: „Das muss man wirklich feinfühlig heraushören“, sagt er und macht es spannend. Alle einmal mucksmäuschenstill sein! Dann ist es zu hören, das Wattknistern. Wie das zustande kommt, weiß der 53-Jährige natürlich. Er ist ein Kenner, der die Natur liebt und aufmerksam beobachtet. „Das Leben von Abertausenden von Tieren unter mir erzeugt in der Summe ein Geräusch, das hörbar ist, wenn man sich dem ein bisschen öffnet.“ Es überrascht, wie laut dieses Knistern um einen herum ist.

Natururlaub sehr beliebt an der Nordsee

Martin Kühn, Nationalpark Ranger 
Martin Kühn, Nationalpark Ranger  © Gary Gerfried Asmussen | Gary Gerfried Asmussen

Sich der Natur öffnen, sie wahrnehmen. Wo ginge das im Norden besser als an der schleswig-holsteinischen Westküste. Nach Bade-/Strandurlaub folgt laut der Nordsee-Tourismus-Service GmbH auf Platz zwei der beliebten Urlaubsarten an der Nordsee der Natururlaub, gefolgt von der Gesundheitsreise. Aber dienen nicht allein Weite, Wiesen und Wasser ohnehin der Gesundheit? Ob auf der Hamburger Hallig bei Husum oder zwischen den Inseln und den Halligen, wo keine Autos, keine lauten Freizeitattraktionen, keine Leuchtreklame, ja nicht einmal Menschen vom Naturerlebnis ablenken.

Entschleunigen, dieser fast inflationär benutzte Modebegriff, er passt an dieser Stelle. Einfach mit der Fähre oder einem Ausflugsdampfer vom Festland hinübersetzen, auf die nordfriesischen Inseln Pellworm, Amrum, Föhr und Sylt oder die Halligen Oland, Gröde, Hooge oder Langeneß im Wattenmeer und den Alltag hinter sich lassen. Nichts leichter als das.

In Spitzenzeiten 100.000 Vögel pro Einwohner

Sind Knistern und vereinzelte Austernfischer oder Rotschenkel die Einzigen, die die Stille im Watt unterbrechen, ist es an Land nicht nur mit der Ruhe vorbei, sondern auch mit der Einsamkeit. Nicht wegen der 123 Menschen, die auf Langeneß leben, sondern wegen der Wildgänse und Co. – das Wattenmeer ist eines der vogelreichsten Gebiete der Erde. Bis zu zwölf Millionen Vögel kommen jedes Jahr hierher, um zu brüten, zu rasten oder das Gefieder zu wechseln. In Spitzenzeiten kommen so auf die Einwohner 100.000 Vögel.

In diesen Tagen sind es vor allem Ringelgänse, die in großen Scharen, Trupps genannt, auf den Salzwiesen grasen. Nähert sich ein Auto oder ein Mensch, schrecken die Tiere auf und fliegen in Formation nahezu gleichzeitig in die Luft. Beeindruckend ist das auch für jene, die mit Ringel- oder Nonnengans, mit Löfflern oder Austernfischern bislang nichts anfangen konnten und die sich über Vogelkundler womöglich ein bisschen lustig gemacht haben.

Halligen mausern sich zu touristischen Lieblingen

Das Klischee trifft auf Langeneß zu. Sehr häufig sind es ältere Männer, die abrupt stehen bleiben, zu Fernglas und Kamera greifen und jedes Mal aufs Neue begeistert sind von dem, was sie am Himmel sehen. Spätestens während eines Aufenthalts auf der Hallig Langeneß, mit zehn Kilometern die längste aller Halligen, oder auf der Nachbarhallig Hooge hat so gut wie jeden Besucher das Vogelfieber gepackt. Es gibt ja auch kein Entkommen, die Tiere sind überall, und das Gebrabbel der Gänse ist Tag und Nacht zu hören. Der Sound der Halligen.

Und diese Halligen, die keine Inseln sind, da sie regelmäßig von der Nordsee überflutet werden (dann ist „Land unter“), mausern sich zu touristischen Lieblingen. Weg vom Trubel auf Sylt oder in St. Peter-Ording wollen die, die hierherkommen, Ruhe und Natur. So wie Familie Schmitt-Hollenberg aus Kiel. Sie sind mit ihren zwei und vier Jahre alten Töchtern für sechs Tage auf Hooge in eine Ferienwohnung gezogen. Und was macht man die ganze Zeit? „Nix“, sagt Mutter Juliane und lacht. Draußen sein, frische Luft atmen und noch mit dem Wetter im Gesicht nach einem Spaziergang in die warme Stube gehen und spielen.

2018 fast 45.000 Übernachtungen auf Hooge

„Dadurch, dass hier nichts ist, verbringt man die Zeit miteinander, wir spielen Mensch-ärgere-dich-nicht. Das Highlight ist es, sich auf Hanswarft beim Kaufmann ein Eis zu holen“, sagt Juliane Schmitt-Hollenberg. Immerhin einen Supermarkt haben sie auf Hooge. Die beiden älteren Töchter der Kieler Familie allerdings sind dann doch lieber zu Haus geblieben. Zu viel Ruhe für die Teenager.

Es werden mehr, die diese Einöde aus Salzwiesen mit Schafen, Rindern und Vögeln genießen: Waren es 2017 knapp 42.000 Übernachtungen auf Hooge, stieg diese Zahl im vergangenen Jahr auf fast 45.000. Dazu kamen im vergangenen Jahr noch die 89.000 Tagesbesucher. Saison ist ganzjährig. Auf Langeneß waren es 25.000 Übernachtungen und 12.000 Tagesgäste. Zum Vergleich: Im gesamten schleswig-holsteinischen Nordseeraum sind es jährlich zwölf Millionen Übernachtungen und 13 Millionen Tagesgäste.

Die Frauenpower der Halligen

Ruth Hartwig-Kruse, Bürgermeisterin von Nordstrandischmoor und Nordstrand, bringt das Dilemma der Touristen auf den Punkt: „Die Urlauber überlegen morgens: Gehe ich rechtsrum oder linksrum? Und am Ende haben sie ihre mitgebrachten Bücher gar nicht gelesen, weil es so viel zu entdecken gibt.“ Die Urlauber, sagt sie, seien viel gestresster als noch vor einigen Jahren und häufig überarbeitet. „Die kommen an und sind dann erst mal vier Tage krank.“

Heike Hinrichsen, Bürgermeisterin Hallig Langeneß
Heike Hinrichsen, Bürgermeisterin Hallig Langeneß © Genevieve Wood | Genevieve Wood

Ruth Hartwig-Kruse ist mit Heike Hinrichsen (Bürgermeisterin von Langeneß) und Katja Just (Bürgermeisterin von Hooge) die Frauenpower der Halligen: Drei von vier Bürgermeistern sind weiblich. Eine Frauenquote haben die Halliglüüd nicht nötig. Darum kümmern sie sich nicht, dafür umso mehr um die Herausforderungen: Die größten Aufgaben, vor denen die Halligen stehen, sei der Schutz vor dem steigenden Meeresspiegel – der Ausbau der Warften, die einzig auf Lange­neß Warf heißt. Warften sind bewohnte Erdhügel. Auf Langeneß sind es 18. Ein Millionenprojekt, das für ein Weiterleben im und mit dem Meer für zukünftige Generationen von großer Bedeutung ist.

Auf solch kleinem Raum, wo jeder jeden kennt, sei es wichtig, die Person Heike von der Bürgermeisterin Hinrichsen zu unterscheiden, sagt Heike Hinrichsen von Lange­neß über das Besondere am Bürgermeisteramt auf einer Hallig. „Man muss es aushalten, dass einen nicht jeder mag und man es nicht jedem recht machen kann.“ Dass die gemütlich aussehende Frau mit den blonden Haaren anpacken kann, glaubt man sofort. Dabei strahlt sie Herzlichkeit und Ruhe aus.

Wer auf einer Hallig Urlaub macht, muss flexibel sein

Anders als auf der Nachbar-Hallig Hooge fehlt Langeneß ein Kaufmann. „Die Urlauber wollen sich keine Gedanken um die Lebensmittelversorgung machen“, sagt Heike Hinrichsen. „Wir brauchen dringend einen Supermarkt.“ Frische Brötchen vom Bäcker gibt es nicht, und mal eben mit der Halligbahn über Oland nach Dagebüll zu fahren ist Urlaubern nicht erlaubt: Das dürfen nur die Einheimischen in ihren privaten Loren. Immerhin ist Besserung in Sicht: Sobald die Warf Treuberg fertig wieder aufgebaut ist, wird dort ein Supermarkt hinkommen. Frühestens 2022 wird das sein.

Dann wird sich eine Szene wie am Freitagmorgen im Frühstücksraum des Hotels Hilligenley vielleicht auch nicht wiederholen. „Haben Sie Sojamilch?“, fragt der Urlauber die Hotelmitarbeiterin. „Leider nein“, die Antwort. Aber Sonntagmorgen sei Sojamilch vom Festland da. Wer auf einer Hallig Urlaub macht, muss flexibel sein oder genug Proviant einpacken.

Auf Langeneß steht das erste Vier-Sterne-Hotel

Die Touristen, die „Land unter“ miterleben wollen, kommen in der Sturmflutsaison von November bis März. Wenn die Nordsee die Halligen überflutet und die Bewohner und Urlauber in ihren Häusern auf den höher gelegenen Warften darauf warten, dass das Wasser wieder abfließt. Auf Langeneß können sie das im ersten Vier-Sterne-Hotel der Halligen, Anker’s Hörn, erleben. Das Haus mit seinen elf Zimmern bietet unter anderem Whirlpool und Sauna mit Meeresblick. Eine Besonderheit auf den Halligen, auf denen es diesen Standard sonst nicht gibt. Malte Karau hatte vor fast zehn Jahren den Mut, dieses Hotel zu errichten. Weil es auf einer Hallig nur auf den Warften Häuser gibt, ist der Platz begrenzt. Als auf der Mayenswarft ein Haus zu verkaufen war, griff er zu, ließ es abreißen und ein neues bauen.

„Die Gäste sind eher halliguntypisch“, sagt Malte Karau, der ursprünglich aus Husum kommt. Untypisch bedeutet: Es sind junge Hotelgäste mit Kindern, 41 Jahre und jünger, die nicht gleich zwei Wochen bleiben wollen, sondern nur drei bis vier Tage. Eine touristische Entwicklung, die für Küstenorte wie Büsum oder St. Peter-Ording und die Inseln schon lange gilt, hat nun auch die Halligen erreicht. „Es funktioniert gut“, sagt Hotelier Karau. Aber vom Mangel an Personal ist auch er betroffen. 16 Mitarbeiter beschäftigt er in beiden Häusern, sie kommen auch aus Polen und der Ukraine. Weil Wohnraum knapp ist, hat Malte Karau für sie private Zimmer angemietet, teilweise wohnen sie im Hotel.

Die Halligwelt, Perlenkette des Nordens genannt, ist ein Stück Wildnis. Die Halligen Habel oder Norderoog sind unbewohnt – außer natürlich von einer Vielzahl an Vögeln. Alle Halligen liegen im Nationalpark Wattenmeer und gehören zum Unesco-Weltnaturerbe. Was die Halliglüüd vereint: Sie haben die Entwicklung ihrer Heimat in die Hand genommen und wollen ihren Lebensraum so entwickeln, dass er für zukünftige Generationen lebenswert bleibt – Naturschutz im Einklang mit den Menschen ist ihnen ein wichtiges Anliegen.

Ringelgänse machen Rast für die nächsten 5000 km

Und das ist auch das Ziel der Biosphäre Halligen als Teil eines weltweiten Netzwerks von mehr als 560 Modellregionen, in denen Menschen nachhaltig wirtschaften und leben. Zu dieser Biosphäre gehören die fünf großen Halligen Gröde, Hooge, Langeneß, Nordstrandischmoor und Oland. Nachhaltig und naturnah ist zum Beispiel die Haltung der Welsh-Black-Bio-Rinder-Herde mit mehr als 100 Tieren von Malte Karau. Mit seinen beiden Hotels ist er Nationalpark-Partner und verpflichtet sich unter anderem zu Qualität, Regionalität und Umweltbewusstsein. „Ohne Maisfütterung bringen die Bullen es auf eine Tonne und sind sanftmütig“, sagt Karau. Er hat ein besonderes Verhältnis zu den Rindern und geht auch mit seinen Töchtern auf die Weide. „Der Bulle kommt an, knufft mich und will gestreichelt werden.“

Auf ein besonderes Erlebnis freuen sich Hallig-Touristen jedes Jahr: die Ringelgans-Tage ab Ende April. Bereits Wochen vorher rasten riesige Schwärme dieser Wildgänse auf den Salzwiesen. Sie fressen sich hier Fettreserven an für ihren bis zu 5000 Kilometer langen Weiterflug in das sibirische Brutgebiet. Stören und Aufschrecken sind verboten, sonst verlieren die Gänse Energie. Die Halliglüüd sehen das alles pragmatischer: „Wir Halligleute sind davon ein bisschen genervt“, gibt Bürgermeisterin Heike Hinrichsen zu. Warum? Wegen des Gänseschiets, der sich in den Ferienwohnungen und Wohnhäusern verteilt. Ein Hinweisschild im Hotel Anker’s Hörn weist die Gäste darauf hin, die Gummistiefel mit Gänsedreck draußen auszuziehen.

Für Nationalparkranger Martin Kühn ist der Zug der Gänse ein Erlebnis. Nicht nur auf Langeneß, auch auf dem Festland ist er unterwegs, um Vögel zu zählen und zu beobachten. Langweilig sei das nie. „Das ist ein ständiger Wechsel, da steckt so viel Spannung drin“, schwärmt er. „Nicht jeden Vogel kann man leicht bestimmen.“ Das allerdings lässt er sich während einer Tour auf der Hamburger Hallig nicht anmerken. „Da, hört ihr die Feldlerche?“ Äh, ja klar. Nein, zumindest nicht am Anfang. Ein paarmal noch, und der Laie erkennt den Vogel des Jahres 2019. „Man kann bei der Vogelbeobachtung die Sinne unglaublich schärfen“, sagt Kühn. Er sei dann Teil der Natur. Und dieses Naturgefühl nutze sich nicht ab. Obwohl bei der Hälfte der Wattvögel die Bestände rückläufig sind, ist Kühn optimistisch: „Es lohnt sich, weiterhin mit einem Lächeln durch die Welt zu gehen.“ Es gebe auch Arten, die in ihrer Anzahl zunehmen. So wie das Blaukehlchen.

Die Reise wurde unterstützt von der Nordsee-Tourismus-Service GmbH und Nationalpark Wattenmeer.