Hamburg. Wie aus heiterem Himmel begann damals eine Katastrophe. Der Norden versank im Schnee. 22 Menschen starben.

Als „Tagesschau“-Sprecher Karl-Heinz Köpcke an einem eisigen Dezemberabend vor 40 Jahren diese Meldung vorlas, konnten es die Zuschauer in Bayern und Baden-Württemberg kaum glauben. Von „Katastrophenalarm in weiten Teilen Schleswig-Holsteins“ war da die Rede, im Hintergrund die Karte des nördlichsten Bundeslands mit der Überschrift: „Schnee-Notstand“.

Während im Süden zunächst noch Biergartenwetter herrschte, gab es 100 Kilometer nördlich der Luftmassengrenze Glatteisregen, heftige Schneefälle, Frost, später Sturm. Es wurden eisige Schneetage, als Sibirien Norddeutschland in den Griff nahm. Auf den Jahreswechsel 1978/79, der vielen heute noch in lebendiger Erinnerung geblieben ist, rollte eine Schneekatastrophe zu – eine der schwersten der Nachkriegszeit.

Der Jahrhundertwinter legte tagelang das öffentliche Leben lahm und forderte in der Bundesrepublik 17, in der DDR mindestens fünf Menschenleben. Zahllose Rinder, Schweine und Hühner verendeten. Die Schäden wurden mit 140 Millionen D-Mark beziffert. Wo der Sturm besonders heftig wütete, türmte sich der Schnee fünf, sechs Meter auf. Hochschwangere Frauen mussten mit Hubschraubern in die Klinik geflogen werden. Nicht selten kamen die Babys an Bord der Helikopter zur Welt.

Luftretter rund um die Uhr im Einsatz

Die Luftretter in Ost und West waren rund um die Uhr im Einsatz, um Patienten und Lebensmittel zu transportieren. Die letzten zehn Meter vor der Landung sahen die Piloten nichts mehr, weil so viel Schnee aufgewirbelt wurde. TV-Reportagen und Aufnahmen von Hobbyfilmern zeigen weinende Landwirte, weil sie ihren vor Schmerzen brüllenden Kühen nicht helfen konnten. Der Strom war ausgefallen, deshalb funktionierten die Melkanlagen nicht mehr. Autofahrer mussten auf den Autobahnen bei bitterer Kälte und ungewisser Hoffnung auf Rettung bis zu 20 Stunden ausharren.

Loose in Schleswig-Holstein: Nach und nach versinken Häuser und Autos im Schnee, wie hier im Kreis Rendsburg-Eckernförde.
Loose in Schleswig-Holstein: Nach und nach versinken Häuser und Autos im Schnee, wie hier im Kreis Rendsburg-Eckernförde. © dpa | Werner Schilling

Wie dramatisch damals die Lage in Norddeutschland war, dokumentieren eine Sonderausstellung im Kreismuseum Prinzesshof Itzehoe und ein Film von NDR und Radio Bremen aus der Reihe „Unsere Geschichte“ mit dem Titel „Eingeschneit und festgefroren – Als der Norden im Schnee versank“ (Sendetermin: 9. Januar 2019, NDR Fernsehen, 21 Uhr). Die Schneekatastrophe habe sich in das kollektive Gedächtnis der Schleswig-Holsteiner eingebrannt, sagt Miriam J. Hoffmann, Leiterin des Kreismuseums Itzehoe und mit dem Geburtsdatum 4. Januar 1979 selbst ein „Schneebaby“.

Und Marc Brasse, Leiter der für die Reihe „Unsere Geschichte“ zuständigen NDR-Abteilung Dokumentation und Reportage, sagt: „Unser Film dokumentiert auch die Gelassenheit und Solidarität, mit der die Norddeutschen die Herausforderung der Schneekatastrophe gemeistert haben.“

Der Hamburger Fotograf Kai Greiser, heute 77 Jahre alt, zählt zu den prominenten Chronisten. Als seine Kollegen lieber Weihnachten und Silvester feiern wollten, flog er über die weite Schneewüste. Seine spektakulären Aufnahmen aus einem Hubschrauber schafften es damals auf den Titel der Illustrierten „Stern“. Die Schlagzeile lautete: „Als nichts mehr ging – der Sechs-Tage-Krieg gegen den Schnee“. Was keiner während des Jahreswechsels ahnte: Das war erst der Anfang.

Hunderte Dörfer waren abgeschnitten

Im Februar 1979 rollte abermals eine Schneewalze auf den Norden zu. Binnen kurzer Zeit nahm der Frost die Kieler Förde und 80 Schiffe in den Griff. Festgefroren. „Sibirien, Sibirien, das ist wie in Sibirien“, erinnert sich Fotograf Greiser an das Ausmaß des „Schnee-Notstands“ mit Hunderten von der Außenwelt abgeschnittenen Dörfern, allein 150 von ihnen in Schleswig-Holstein. Vielerorts war der Strom ausgefallen.

Im NDR-Film spricht Volker Lechtenbrink mit sonorer Stimme diesen Satz: „Niemand hatte es vorhergesehen.“ Tatsächlich waren die Meteorologen Ende der 1970er-Jahre noch nicht in der Lage, solide Prognosen über einen Zeitraum von mehr als drei Tagen zu geben. Heute dagegen seien Wettervorhersagen von fünf Tagen so gut wie die 24-Stunden-Prognosen von damals, sagt Frank Böttcher, Geschäftsführer des Hamburger Instituts für Wetter- und Klimakommunikation.

Am Morgen des 28. Dezember 1978 lagen die Temperaturen in ganz Deutschland zunächst bei zehn Grad über null. Mittags fielen ein paar Regentropfen, dann Schneeflocken. Plötzlich wurde es bitterkalt.

Der schleswig-holsteinische Diplom-Meteorologe Thomas Sävert schreibt auf einer Website: „Am 28. Dezember hatte es noch den ganzen Tag immer wieder geregnet, und es war mild. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich am Abend aus dem Fenster schaute und sich plötzlich riesige Schneeflocken unter den Regen mischten. Dann ging alles ganz schnell, innerhalb von Minuten war alles weiß.“ Es folgten Tage mit Schneefall und Schneetreiben, es bauten sich Schneewehen auf, der Straßenverkehr wurde lahmgelegt.

Die Ursache: Feuchtwarme, subtropische Luft schob sich im Bereich der Luftmassengrenze über eine Kaltfront. Die Folge waren lang anhaltende Niederschläge, die an der Nordseite der Luftmassengrenze meist als Schnee fielen. Und weil das Wetter, wie Frank Böttcher im NDR-Film von Sven Jaax sagt, ein „Wiederholungstäter“ sei, gab es sechs Wochen später, am 13. Februar, Teil zwei der Schneekatastrophe.

„Es hat 48 Stunden lang ohne Pause geschneit“

Im Gegensatz zum Jahreswechsel waren diesmal auch das südliche Schleswig-Holstein sowie große Teile Niedersachsens und Mecklenburg-Vorpommerns von den schlimmsten Schneeverwehungen betroffen, sagt Thomas Sävert.

Hobby-Fotografen waren bei Temperaturen von minus 20 Grad unterwegs und filmten die sibirische Landschaft mit Super-8-Kameras. Die Itzehoer Sonderausstellung „Schneekatastrophe in Schleswig-Holstein“ zeigt zwei Dutzend Fotos von Kai Greiser, die er vom Helikopter aus gemacht hat: wie in Braderup ein alter Mann mit Pferdeschlitten zum Einkaufen fährt. Und wie Bundeswehrpanzer auf der Autobahn 7 zwischen Tarp und Flensburg Schnee räumen.

Greisers Pilot war der heute 70 Jahre alte Dieter Roeder von der Heeresfliegerstaffel 6 (Standort „Hungriger Wolf“). Die Bundeswehr versorgte die Bevölkerung per Hubschrauber mit Lebensmitteln und brachte sogar Windeln zu einer Ferienhaussiedlung auf Fehmarn. „Es hat 48 Stunden ohne Pause geschneit“, sagt Ernst Otto Petersen aus Nordstrand. Er selbst filmte mit seiner Super-8-Kamera Dorfbewohner beim gemeinsamen Schneeschippen und dem Versuch, die Besatzung des Seenotrettungskreuzers im Hafen mit Nahrung zu versorgen. Es war der nicht eingeschneite Kirchturm, der den Insulanern als Orientierungspunkt diente.

Sassnitz in Mecklenburg-Vorpommern: Die Eisenbahn-Transitstrecke wird durch den Einsatz von Schneefräsen und teilweise sogar durch Sprengungen Meter für Meter geräumt.
Sassnitz in Mecklenburg-Vorpommern: Die Eisenbahn-Transitstrecke wird durch den Einsatz von Schneefräsen und teilweise sogar durch Sprengungen Meter für Meter geräumt. © dpa | Zentralbild

Während Schnee und Sturm Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern schwer treffen, versinkt auch die Millionenstadt Hamburg im Schnee. Anders als in Schleswig-Holstein läuft die Stromversorgung weiter. Denn nach der Sturmflut von 1962 hatten die Hamburgischen Electricitäts-Werke fast alle Freileitungen durch Erdkabel ersetzt. Tausende Bahnreisende und Autofahrer saßen jedoch in der Hansestadt fest und mussten versorgt werden.

Am Hauptbahnhof verteilte die ­Johanniter-Unfall-Hilfe zum Jahreswechsel heiße Erbsensuppe. Gestrandete Reisende wurden provisorisch in Schutzbunkern mit Frischluftzufuhr untergebracht. Eine junge Frau aus der DDR, die zum Verwandtenbesuch im Westen weilte, gefiel das gar nicht. Es sei viel zu eng im Bunker, sie weine deswegen häufiger, sagte sie damals vor einer TV-Kamera. „Ich bin enttäuscht, dass wir in einem Bunker und nicht in einem Hotel untergebracht sind.“ In der DDR wäre das nicht passiert, meinte die ­Rostockerin.

So dramatisch die Katastrophe war – sie schweißte auch die Menschen zusammen. Einer half dem anderen. Sowohl die TV-Doku als auch die Itzehoer Ausstellung vermitteln den Eindruck, dass die gemeinsame Solidarität stärker war als der tagelange Schneesturm. Das soziale Miteinander und die Hilfsbereitschaft waren in diesen Tagen überwältigend, sind sich die Chronisten einig. Wenn die Schneemassen beiseitegeschaufelt waren und es endlich wieder Strom gab, blieb auch Zeit zum gemeinsamen Feiern.

Extreme Wetterlagen

Wie verheerend heute extreme Wetterlagen mit längerem Stromausfall für das öffentliche Leben sein können, steht in den Krisenszenarien der Katastrophenschützer. In einer „Planungshilfe“ der Kieler Landesregierung von 2014 heißt es: „Bei länger andauernden Stromausfällen wird es keinen Lebensbereich geben, der nicht betroffen sein wird.“

In dem Papier werden detaillierte Gegenmaßnahmen beschrieben. So ist in den Krankenhäusern und klinischen Einrichtungen mit stationärem Betrieb eine Ersatzstromversorgung für mindestens 24 Stunden vorgeschrieben. Als besonders kritisch wird der Ausfall der medizinischen Geräte und der OP-Infrastruktur bewertet. Des Weiteren sei mit ­Versorgungsengpässen und organisatorischen Problemen wie der Einhaltung von Hygienestandards zu rechnen.

Zwar ist die Schneekatastrophe vor 40 Jahren nunmehr längst Geschichte. Aber ein solches Ereignis kann sich durchaus wiederholen. Mit der Erderwärmung dürften wohl extreme kalte Winter statistisch betrachtet weniger werden. Aber, sagt Frank Böttcher vom Institut für Wetter- und Klima­kommunikation in Hamburg, Einzelfälle wie die Schneekatastrophe werde es immer wieder geben. Irgendwann wird Sibirien wieder nach Norddeutschland kommen.