Hamburg. Rüdiger Grube stieg vom Bauernsohn aus Moorburg zum Chef der Deutschen Bahn auf. Von seinem Erfolg will er etwas zurückgeben.
Dieser Morgen im November ist so ungemütlich wie man sich gemeinhin einen Novembermorgen in Hamburg vorstellt. Knapp über null Grad, grauer Himmel, eisiger Wind. Tags zuvor wurde bekannt, dass vor dem Michel eine Frau erfroren ist – die Hansestadt beklagt mit ihr bereits drei Kältetote, dabei hat der Winter noch nicht einmal richtig angefangen.
In einem Hinterhof in Harburg sitzt in den ehemaligen Räumen einer Motorenfabrik ein älterer Herr an einem einfachen Holztisch und wärmt sich an einer Tasse mit heißem Wasser, in dem ein Beutel mit schwarzem Tee schwimmt. Bei näherem Hinsehen passt er nicht wirklich hierher: korrekt frisiertes, silbrig glänzendes Haar, gesunder Teint, blütenweißes Hemd, gut sitzender dunkelblauer Anzug.
Doch Rüdiger Grube ist nicht aus Versehen in diese etwas triste Umgebung am Rande der Harburger Innenstadt geraten. Das alte Backsteingemäuer beherbergt seit Kurzem das „Harburg-Huus“, die neue Obdachlosen-unterkunft des Roten Kreuzes. Der langjährige Vorstandschef der Deutschen Bahn AG ist auch nicht zum ersten Mal hier – er ist der Schirmherr des Harburg-Huus. Das Treffen heute dient dazu, die Frage nach dem Warum zu klären: Was bringt einen der profiliertesten Manager des Landes dazu, sich für Obdachlose einzusetzen?
Er hat etwas zu erzählen
Nun, um es vorwegzunehmen: eine ganze Menge. Jedenfalls antwortet der 67-Jährige auf die zum Aufwärmen gedachte Frage eine geschlagene Viertelstunde – und lässt sich auch von gelegentlichen Nachfrageversuchen nicht aufhalten. Schnell wird deutlich: Grube hat etwas zu erzählen. Und der Medienprofi weiß auch genau, was er erzählen möchte und was nicht. Wer nur einige der unzähligen Porträts über und Interviews mit ihm gelesen hat, wird ein paar Anekdoten aus seinem Leben wiedererkennen. Doch das macht sie nicht schlechter, denn sie verdeutlichen: Der Mann hat nicht vergessen, wo er herkommt, und das erklärt auch, warum er heute in einer Obdachlosenunterkunft in Harburg sitzt.
Immer wieder kommt Grube auf seine Kindheit zu sprechen: „Ich bin in einfachen Verhältnissen auf einem Bauernhof in Moorburg aufgewachsen“, sagt er. „Meine Eltern haben sich schon getrennt, als ich fünf Jahre alt war.“ Dem ein Jahr älteren Bruder habe die Trennung so zugesetzt, dass er einen Sprachfehler bekam. Die alleinerziehende Mutter habe immer penibel darauf geachtet, beide Söhne gleich zu behandeln. „Wenn er einen grünen Pullover bekam, bekam ich auch einen, wenn er Knickerbocker bekam, bekam ich auch welche“, erzählt Grube und schmunzelt.
Schwere Zeiten
Auch materiell waren die Zeiten nicht leicht. Einmal habe ihn seine Mutter mit der letzten Mark im Portemonnaie zum Schlachter geschickt, um Hack zu holen. „Das hat sie mit eingeweichten Brötchen verlängert, dann gab es Buletten.“ Das sei für ihn ein „Schlüsselerlebnis“ gewesen, so Grube, das ihm gezeigt habe: „Geht nicht gibt es nicht. Auch wenn man wenig hat, kann man eine Lösung finden – und halt das Essen mit trockenen Brötchen verlängern.“
Nachdrücklich in Erinnerung habe er auch eine Bemerkung einer Tante, als er auf ihre Frage, was er mal werden wolle, „Pilot“ antwortete: „Da hat sie mich ausgelacht und gesagt: Dafür brauchst du Abitur. Da ist unter meiner Haut ein kleiner Stachel gewachsen“, so Grube. Und dieser Stachel erinnerte ihn stets daran, zwei Grundsätze zu beherzigen. Erstens: „Wenn man etwas will, schafft man alles.“ Zweitens: „Vergiss nie, wo du herkommst.“
Erfolg gab ihm recht
Angesichts seines weiteren Lebenslaufs wäre es nicht verwunderlich, wenn Grube sich seiner Herkunft nicht mehr so genau erinnern würde. Als der 16-Jährige nach dem Hauptschulabschluss, anders als sein Bruder, weiter zur Schule gehen will, bleibt seine Mutter hart, um den Älteren nicht zu benachteiligen. „Aber ich wollte meinen eigenen Weg finden und habe mich gegen den Willen meiner Mutter zur Realschule angemeldet.“ Der Erfolg gibt ihm recht.
Während der Ausbildung zum Metallflugzeugbauer beim Hamburger Flugzeugbau gibt Grube nebenbei eine Zeitung heraus und weckte mit einem Artikel über Organspende die Aufmerksamkeit der Gattin von Werksleiter Werner Blohm. Der Chef zitiert den Azubi zu sich, man lernt sich kennen, und schließlich erklärt Blohm: „Sie hören jetzt auf mit der Ausbildung und fangen an zu studieren. Dafür kriegen Sie von uns 300 D-Mark im Monat“, erinnert sich Grube. „Das war für mich wie ein Lottogewinn.“
Steile Karriere
Er macht an der Fachhochschule seinen Diplom-Ingenieur, schließt noch ein Universitätsstudium in Wirtschaftspädagogik an, wird Berufsschullehrer und promoviert, kehrt dem Staatsdienst den Rücken und geht zum Flugzeugbauer Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB, später DASA, heute Airbus), macht bei Daimler-Benz Karriere und folgt schließlich 2009 seinem früheren MBB-Chef Hartmut Mehdorn als Vorstandschef der Deutschen Bahn AG.
Dort wird er mit Plänen konfrontiert, die Bahnhofsmissionen aus den Bahnhöfen zu verbannen. Grube hört auf die Kritik der Kirchen und stoppt das Projekt. Und der neue Chef von 330.000 Mitarbeitern geht noch weiter: Er verordnet allen 5700 Führungskräften des Staatskonzerns einen sozialen Tag pro Jahr – sich selbst natürlich auch. Er lässt seine Mitarbeiter Tannenbäume für Obdachlose schmücken und schließlich am Bahnhof Zoo in Berlin Sanitärcontainer aufstellen: „Man glaubt es kaum“, sagt Grube. „Im ersten Jahr ist dort mehr als 350.000-mal geduscht worden.“
Bei den „Off Road Kids“, einer Stiftung der Bahn für obdachlose Jugendliche, ist Grube bis heute Schirmherr und Kuratoriumsvorsitzender. „Wir haben in zehn Jahren 6000 junge Menschen in die Gesellschaft reintegriert“, berichtet er stolz. Die Hilfe für Menschen, die weniger Glück hatten im Leben als er, sei für ihn irgendwie „eine Lebensaufgabe geworden“, sagt Grube. „Da hatte ich das Gefühl, etwas von dem zurückgeben zu können, was ich von der Gesellschaft bekommen habe.“ Denn als Hauptschüler so Karriere zu machen, sei ja keine Selbstverständlichkeit.
Als der DRK-Kreisverband Harburg anfragt, ob er Schirmherr einer neuen Obdachlosenunterkunft werden will – der ersten in Hamburg südlich der Elbe – muss er nicht lange überlegen. „Das ist ein gutes Projekt, und es hat mit Harburg zu tun – in Harburg sind meine Wurzeln.“ Zwei Punkte gefallen ihm an der Unterkunft mit ihren 15 Plätzen in vier Zimmern besonders: Die Obdachlosen dürfen ihre Hunde mitbringen, Körbchen in unterschiedlichen Größen stehen bereit. „Und die Einrichtung ist nicht von Vater Staat abhängig, sondern finanziert sich vollständig über Spenden“, sagt Grube.
Dass er dabei als Türöffner zu den Herzen und Portemonnaies potenzieller Spender eine entscheidende Rolle spielt, ist ihm natürlich bewusst. Wenn er von seinem großen Netzwerk erzählt, das er immer wieder für gute Zwecke aktiviert, wird deutlich, dass der Bauernsohn aus dem Alten Land trotz aller Bodenhaftung inzwischen in einer anderen Welt zu Hause ist.
Steinmeier als Trauzeugeund Schmidt als Idol
Nebenbei erwähnt er, dass er auf einer Geschäftsreise in China den Unternehmer Christoph Gröner kennengelernt habe, der einer der größten Baulöwen des Landes ist. Das sei auch einer, der sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet habe und sich stark sozial engagiere – möglicherweise auch für das Harburg-Huus und die Off Road Kids, sagt Grube.
Ob man das schreiben dürfe? Das kläre er, sagt Grube, zückt sein Smartphone und ruft Gröner kurzerhand an – über Lautsprecher. Man ist per Du, das Gespräch dauert nur wenige Sekunden, Managerkommunikation halt. Ergebnis: Ja, der Name Gröner darf erwähnt werden. Und ja, er werde sich engagieren. Der Anruf hat sich gelohnt.
Beeindruckt habe ihn auch sein „guter Freund“ Frank-Walter Steinmeier, der Grubes Trauzeuge bei der Hochzeit mit der bekannten Köchin Cornelia Poletto war: Der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident habe mal eine fünfstellige Summe für das Projekt am Bahnhof Zoo gespendet: „Das fand ich grandios“, so Grube. „Politiker verdienen ja nicht endlos viel.“
Wollte nicht Senator werden
Das sei aber nicht der Grund dafür gewesen, dass er den ihm angebotenen Posten als neuer Wirtschaftssenator in Hamburg abgelehnt habe. Bei dem Thema wird Grube zwar etwas einsilbiger, aber so viel sagt er doch: „Ich habe mich über die Anfrage gefreut. Aber ich habe mir gesagt: Schuster, bleib’ bei deinen Leisten. Ich bin kein Politiker, sondern in der Wirtschaft groß geworden. Dabei möchte ich bleiben.“ Er habe sich aber gefreut, dass Michael Westhagemann die Nachfolge von Frank Horch angetreten habe – den kenne und schätze er aus dem Aufsichtsrat des Hafenkonzerns HHLA, dessen Vorsitzender Grube ist.
Ein politisches Idol hat Grube dennoch: Helmut Schmidt. Wie der damalige Polizeisenator und spätere Bundeskanzler während der Flutkatastrophe 1962 mit dem Hubschrauber in Moorburg einschwebte, beeindruckte den damals Zehnjährigen mächtig. „Er hat uns Kindern gesagt: Die gute Nachricht ist: Eure Schule ist kaputt. Die schlechte: Ihr müsst trotzdem hin.“
Die typischen Werte, für die der große Langenhorner stand, hat auch der Junge aus Moorburg verinnerlicht: „Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit, Authentizität, Loyalität, Leidenschaft, Wertschätzung gegenüber anderen Menschen ...“ Wenn Grube aufzählt, was ihn leitet, kommt er wieder ins Reden. Mit Blick auf das Harburg Huus fasst er seine Haltung so zusammen: „Arroganz gegenüber Obdachlosen ist unangebracht. Wir alle könnten auch Gast in diesem Hause sein – und dann hätte man noch Glück gehabt.“
Die Kältetoten dieses Herbstes hatten das Glück nicht.
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