Husum/Hamburg. Zum Festival „Raritäten der Klaviermusik“ kommen seit 1987 Gäste aus aller Welt. Für Tou Liang Chang ist “Husum wie eine Droge“.

Seine kleine Kamera hat Tou Liang Chang immer dabei. Der Allgemeinmediziner aus Singapur fotografiert, was ihm beim Festival „Raritäten der Klaviermusik“ vor die Linse kommt: die Pianisten, die Zuhörer vor und nach dem Konzert, in der Pause. Zu gern würde er auch während des Konzerts fotografieren. Seine Eindrücke hält Dr. Chang dann auf seinem Blog „pianofortephilia“ fest. Der Mann versteht etwas von Musik, er hat vier Jahre lang das Singapore International Piano Festival geleitet: „Husum ist wie eine Droge. Gleich beim ersten Mal bin ich zum Junkie geworden.“

Tou Liang Chang ist nicht der einzige. Die Klavier-Junkies – Kenner, Liebhaber, Amateurpianisten, Musikwissenschaftler, Journalisten – kommen aus der ganzen Welt: aus Japan und den USA, aus den Niederlanden, aus Bayern, Hamburg oder Dänemark. Sie scheuen keine Kosten und Mühen und pilgern seit mehr als 30 Jahren in die graue Stadt am Meer. Ins Schloss vor Husum mit seinem Rittersaal.

Das Duo Grau-Schumacher spielt im Rittersaal im Schloss vor Husum, und die Zuhörer sind hautnah dabei
Das Duo Grau-Schumacher spielt im Rittersaal im Schloss vor Husum, und die Zuhörer sind hautnah dabei © Stiftung Nordfriesland | Stiftung Nordfriesland

Im 16. Jahrhundert im Stil der niederländischen Renaissance erbaut, stand die kleine Residenz damals vor den Mauern der Stadt. Jahrhundertelang wurde sie von schleswig-holsteinischen Herzögen, ja sogar vom dänischen König genutzt. Der Rittersaal war schon immer ein Repräsentationsraum. Ein Schlosspark mit Teich, schnatternde Enten, kreischende Krähen – manchmal auch im Konzert – machen das ungewöhnliche Ambiente auch aus.

Eine Erfolgsgeschichte

1987, zeitgleich mit dem Schleswig-Holstein Musik Festival, rief der Berliner Pianist Peter Froundjian (heute 70) seine „Raritäten“ ins Leben: „Im Klassikbetrieb werden immer wieder dieselben Werke durchdekliniert, da hab ich gedacht, das kann doch nicht wahr sein! Ich kenne so viele Werke, die reizvoll sind.“

Gesagt, getan. Die Husumer „Raritäten der Klaviermusik“ schreiben bis heute eine Erfolgsgeschichte. Peter Froundjian kann sich jedenfalls nicht retten vor Anfragen von interessierten Pianisten. Es gibt sie also, die Künstler, die Lust auf Schatzgräberei haben, die sich gern Unbekanntes erarbeiten, die über den Tellerrand von Beethoven, Mozart oder Brahms blicken. Letztgenannte stehen in Husum ohnehin auf der roten Liste, es sei denn, hier wird eine Rarität an Licht befördert.

Werke von mehr als 500 unbekannten Komponisten sind in Husum bislang aus verstaubten Archiven geholt und zu Gehör gebracht worden. Und noch immer gibt es Neues zu entdecken. Noch nie wurde etwa der englische Spätromantiker John Francis Bennett gespielt. Der britische Pianist Simon Callaghan präsentiert Werke von ihm am 24. August. Auch der Schubert-Zeitgenosse Anselm Hüttenbrenner gehört zu den Raritäten-Komponisten. Die Österreicherin Ingrid Marsoner stellt ihn am 23. August vor. Oder: Mili Balakirew ist zwar bekannt, aber so gut wie nie zu hören, ebenfalls Fanny Hensel, die Schwester von Felix Mendelssohn. Nur einige von vielen weiteren Beispielen.

Enger Austausch mit den Pianisten

„Wenn ich das nächste Festival plane, bin ich wie ein Maler vor der leeren Leinwand. Ich weiß nie genau, wie es nachher wird, aber ich weiß, wie es sein muss, damit es meinen Ansprüchen genügt.“ Festivalleiter Froundjian zieht gern Vergleiche mit der bildenden Kunst, er liebt sie nicht nur, er malt auch selbst. Und versteht sich als Galerist. „Das Festival ist wie eine Ausstellung, und jedes Konzert repräsentiert einen Ausstellungsraum, in dem Werke gezeigt werden, die dem Künstler besonders am Herzen liegen.“

Die Gestaltung dieser „Galerie unbekannter Klaviermusik“ geschieht im Austausch mit den Pianisten. Jedes Konzert hat eine eigene Note und ist handverlesen im wahrsten Sinne des Wortes. „Man kann hier die abstrusesten Werke spielen, und das wird vom Publikum akzeptiert und sogar erwartet. Kein Konzertveranstalter weltweit wagt so etwas.“ So der kanadische Pianisten-Star Marc-André Hamelin, der bereits seit 1989 regelmäßig zu den „Raritäten“ kommt. Allemal erweitert man in Husum seinen Horizont und sieht auch die altbekannten Klassiker in anderem Licht. Denn man versteht, in welchem Umfeld sie entstanden sind. „Es soll keine wissenschaftliche Veranstaltung sein, sondern der Unterhaltung dienen, aber der anspruchsvollen“, hebt Froundjian hervor.

Dazu gehören die Pause und die Zeit nach dem Konzert. Reges Treiben herrscht dann am mit Raritäten gefüllten CD-Stand. Und die etwa 160 Besucher reden sich die Köpfe heiß: über die Interpretationen, über die Qualität der unbekannten Musik. Spätestens dann packt Tou Liang Chang aus Singapur wieder seine Kamera aus.

Festival „Raritäten der Klaviermusik“
Sa 18.–Sa 25.8., Schloss vor Husum;
www.piano-festival-husum.com
Eine CD mit Highlights vom Vorjahr erscheint zum Festival beim dänischen Label Danacord (Festival 2017: DACOCD799,
www.danacord.dk)
Deutschlandfunk Kultur sendet zwei
Konzerte: Fr 24.8., 20.03 Uhr, Simon
Callaghan live, und am Di 18.9., 20.03 Uhr, Ingrid Marsoner (Aufzeichnung)