Hamburg. 100.000 Zuschauer und 80.000 Teilnehmer feiern Parade zum Christopher Street Day. Ihr Motto: „Freie Bahn für Genderwahn“

    Wer so herumläuft, hat Mumm. Der mittelalte Mann mit Glatze, rundum pfundig in Form, trägt ein knappes Strickkleid in Regenbogenfarben, gewaltige Ohrringe und eine Art Tannenbaum auf der Platte. In der linken Hand hält er ein neckisches Sonnenschirmchen, in der rechten einen Fächer. Stolz präsentiert er seine Plauze. Das Publikum an der Petrikirche beglückt er mit Luftküssen. Eine junge Frau aus der ersten Reihe lässt sich nicht lange bitten: Unter dem Beifall der Umstehenden wagt sie ein Tänzchen mit dem Paradiesvogel.

    Beobachtungen wie diese, im Minutentakt aufgenommen, belebten einen Festtag für Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle. Sie feierten sich selbst. Und viele Hamburger machten lustvoll mit. Sehr viele sogar. Die Polizei gab 80.000 Teilnehmer des Demonstrationszuges von St.­ Georg zum Neuen Jungfernstieg sowie 100.000 Zuschauer am Wegesrand an.

    Die zum 38. Mal in Hamburg zele­brierte Parade für sexuelle Vielfalt und Toleranz am Christopher Street Day war der Höhepunkt eines mehrtägigen Festivals mit Vorträgen, Filmvorführungen und Informationen. Kommerz kam keinesfalls zu kurz. Beim Umzug selbst war Remmidemmi angesagt. Der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank sowie Sozialsenatorin Melanie Leonhard machten mit. Die Dragqueen Olivia Jones, angestrengt um Aufmerksamkeit bemüht, war zur Stelle, sobald sich eine Kamera näherte. Das offizielle Leitmotto: „Freie Bahn für Genderwahn“.

    Mehr als 20 zumeist fantasievoll in Szene gesetzte Trucks und alle möglichen Fußgruppen passierten die Strecke durch die Innenstadt. Und nicht nur die Witterung war heiß. Geschäfte wie Tchibo und Budni waren in den alles dominierenden Regenbogenfarben geschmückt. Männer mit hohen Hacken trugen Strapse und Federboas; Frauen posierten in Lack, Leder oder Glitzerstoff. Nichts war unmöglich. Besonders ins Auge stach ein männlicher Engel. Er trug außer einem knappen Slip und riesigen weißen Flügeln gar nichts.

    Oft erschien der Übergang zum Schlagermove fließend. Aus Lautsprecherboxen auf den Trucks hämmerten Beats und Bässe. Passagiere und Passanten stimmten ein. „Atemlos“ durch den Nachmittag. Von den Fahrzeugen flogen Kamellen, Kondome, Konfetti ins Publikum. Rewe ließ Lebkuchenherzen regnen. Sogar die FDP war mit von der Partie. Allerdings ging’s an Bord des liberalen Trucks recht bürgerlich zur Sache. Viele Teilnehmer trugen Sonnenhüte, Regenbogenketten, Flaggen und Luftballons mit Einhornmotiven. Rasseln, Tröten und vor allem Wasserpistolen hatten Hochkonjunktur.

    Kauze, Paradiesvögel und schräge Vögel feierten einen Multikulti-Karneval. Die Deutsche Bahn, der Landfrauenverein St. Pauli Süd, die Otto Gruppe und das Eppendorfer Universitätsklinikum waren mit eigenen Trucks auf Achse. „Gleiches Recht für jedes Geschlecht“, prangte auf einem großen Spruchband. An einem Lkw stand in großen Buchstaben: „Wir sind nicht alle gleich, aber alle eins.“

    Den inoffiziellen Preis einer besonders überragenden Darbietung hätte ein Polizist an der Bergstraße/Ecke Mönckebergstraße verdient gehabt. Sein Auto parkte er zwecks Absperrung mitten auf der Kreuzung. Und er stand, nur optisch cool wie ein Kühlschrank, als Ansprechpartner für alle Fälle zur Verfügung. Der Mann hatte Note. Er half Müttern mit Kinderwagen, Verirrten und schmiss sogar Geld in Sammelbüchsen. Applaus für so viel Bürgernähe! Den gab es dann auch reichlich – und von allen Seiten.

    Abgesehen von katastrophalen hygienischen Verhältnissen war der Festumzug erstklassig organisiert. Und wer am Schluss Stärkung suchte, kam am Ballindamm und auf dem Jungfernstieg auf seine Kosten. Dort wurde bewiesen, dass die Veranstalter auch Kommerz können. In bester – oder schlechtester – Manier des Alstervergnügens reihte sich eine Ess- und Getränkebude an die nächste. Der Euro rollte lustvoll. Dazwischen offerierten Stände Informationen zu passenden Themen. Dabei war auch das Lesben-Netzwerk

    Aus St. Petersburg waren 14 Aktivisten angereist

    Hamburg. „Wir sind sichtbarer geworden“, sagte Eva Burgdorf vom Lesbenverein Intervention. Sie gehörte zu den Mitorganisatorinnen des am Vorabend durchgeführten „Dyke-Marsches“, an dem 2000 Menschen teilnahmen. Das Netzwerk informierte mit Prospekten und Faltblättern. An der Bude des Lesben- und Schwulenverbands Hamburg hatten Gäste aus Russland Unterkunft erhalten. „Wir sind mit 14 Personen aus St. Petersburg angereist“, sagte der Grafikdesigner Anton im Namen der Organisation Coming Out. Von einem friedlichen, fröhlichen und schillernd bunten Festtag inklusive Demonstrationszug in seiner Heimatstadt kann Anton nur träumen. Er arbeitet engagiert daran, dass sich dies ändert. Eines Tages.