Hamburg. Kai Hermann wurde mit dem Buch “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ weltbekannt. Jetzt beobachtet der 80-Jährige mit dem Fernglas Vögel.

Kann das Wendland ein Sehnsuchtsort sein, wie, sagen wir mal, die Südsee? Dort sei es schon sehr schön gewesen, sagt mein Freund Kai Hermann. Auf einer Weltreise hatte er dort Station gemacht. Das Geld dazu hatte der Journalist und Bestseller-Autor aus einer großzügigen Abfindung, die ihm der Verlag der Zeitschrift „Twen“ gezahlt hatte. Bei dem legendären Zeitgeist-Magazin war er 1971 kurz vor dessen Einstellung noch Chefredakteur geworden. Und was hat das Wendland, was etwa Hawaii nicht hat? „Die Elbe“, sagt der gebürtige Hamburger, Sohn eines Marineoffiziers und einer Journalistin.

"Spur der Boheme"

Ganz so einfach ist das natürlich nicht. Kai Hermann folgte der „Spur der Boheme“. Also jenen Berliner Künstlern, die das Wendland schon Mitte der 60er-Jahre als Sehnsuchtsort ausgemacht hatten. Ein vergessener Landstrich im Zonenrandgebiet, wie das damals hieß. Erst als Ende der 70er-Jahre die Entscheidung für das Atommüll-Lager auf Gorleben fiel, wurde das Wendland schlagartig bundesweit bekannt. Eine Art Toskana für Arme. Billiger und nah dran, nicht jenseits der Alpen.

Der Dichter Nicolas Born gehörte zu jener Boheme. Oder die Künstlergruppe „Rixdorfer“ um Uwe Bremer, Albert „Ali“ Schindehütte, Johannes Vennekamp und Arno Waldschmidt. Die kannte Hermann alle – aus seiner Zeit als Korrespondent der „Zeit“ in Berlin. Wegen seiner kritischen Berichterstattung im Zusammenhang mit den Unruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke drohte die Chefredaktion dem mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichneten Journalisten mit Versetzung in die Leserbrief-Redaktion. Da ging Hermann lieber von selbst.

Er war Deichläufer

Kai Hermann war nie ein dogmatischer Mensch. Als er 1973 ins Wendland zieht, versucht er auch nicht, den Menschen dort – wie später mancher Stadt-Flüchtige – zu erklären, was sie alles anders und vor allem besser machen sollten. Der freie Journalist, der ab 1972 hauptsächlich für den „Stern“ schreibt, wird Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr. Rückt nächtens aus, wenn es brennt. Und er wird Deichläufer. Einer, der bei Elb-Hochwasser auf seinen Deichabschnitt aufpassen muss – wenn er nicht gerade als Kriegsreporter unterwegs ist. Etwa auf dem Balkan oder im brennenden Beirut. Er weiß, es gibt nicht immer die Guten oder die Bösen. Was ist wahr? Die Zweifel des Journalisten Hermann verarbeitet sein Freund, der Schriftsteller Nicolas Born, in dem Roman „Die Fälschung“. Ein großer Erfolg – wie der Film von Volker Schlöndorff mit Bruno Ganz und Hanna Schygulla.

Geschrieben hat Kai Hermann seine großen Reportagen und Bücher im Wendland und nicht in der Zweitwohnung auf dem Hamburger Kiez, die er erst vor zwei Jahren aufgegeben hat. Am liebsten bei gutem Wetter, im Garten – mit Teich, romantischen Wildrosenhecken und einheimischen Sträuchern. Seine Lieblingsrose ist die rosa und öfter blühende „Robusta“. Die kommt ursprünglich aus Ostasien und gilt bei uns als Neophyt. Vor dem Eingang zu seinem kleinen Anwesen im Flecken Jasebeck stehen auch Edelrosen, im Garten blüht im Sommer ein Trompetenbaum (Catalpa). Der hat den Herbststurm „Xavier“ schadlos überstanden. Die mächtige Weide, die der Journalist als Erstes gepflanzt hatte, hat es umgehauen. Da haben es meine Frau Anke und ich besser getroffen. Null Schaden in unserem kleinen Mühlenpark.

Mit Laptop und Fernglas

In seinem Garten hat Kai Hermann 1978 auch sein berühmtestes Buch geschrieben. Über die jugendliche Drogenabhängige Christiane Felscherinow („Christiane F.“), die er zusammen mit seinem „Stern“-Kollegen Horst Rieck interviewt hatte. Der Bestseller „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist in 15 Sprachen übersetzt, Gesamt-Auflage mehr als drei Millionen. Jetzt wird es, womöglich, noch einmal verfilmt. Als Fernsehserie.

Wenn Hermann in seinem Garten sitzt und schreibt, hat er stets ein Fernglas neben dem Laptop stehen. Denn er ist ein leidenschaftlicher „Bird-Watcher“. Er beobachtet aber nicht nur die Vögel. Seine Enkel bringt er immer wieder zum Erstaunen, wenn sich auf seinen Pfiff die Meisen um ihn versammeln. Leider fressen sie ihm noch nicht aus der Hand. Aber das kommt noch. Bestimmt.

Am vergangenen Montag feierte Kai Hermann seinen 80. Geburtstag. Bei „Steinhagen“. Das ist eine alteingesessene Gaststätte mit Saal für Hochzeiten, Todesfälle, den jährlichen Feuerwehrball – und Geburtstage. Freunde und Lebensgefährten kamen. Am Ende mussten mehrere Autos, die sich in der matschigen Wiese festgefahren hatten, mit einem Trecker freigeschleppt werden. Das gibt es nur hier. Nicht auf Hawaii.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth

Abendblatt-Kolumnist Karl Günther Barth
Abendblatt-Kolumnist Karl Günther Barth © HA | Klaus Bodig