Hornstorf. In Mecklenburg hat sich aus ausgerissenen Tieren eine 250-köpfige Herde entwickelt, die die Felder leer frisst. Feinde gibt es nicht

Wäre man Nandu, müsste man sagen: 2016 war ein großartiges Jahr. Rund 250 dieser südamerikanischen Laufvögel leben mittlerweile östlich des Schaalsees, im Grenzgebiet zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein – so viele wie noch nie. Das zoologische Kuriosum entwickelt sich prächtig, in ganz Europa gibt es so etwas kein zweites Mal. Die Kolonie wurde Mitte der 90er-Jahre vermutlich von Tieren gegründet, die aus einem Privatgehege in Groß Grönau (Schleswig-Holstein) ausbüxten. Irgendwie haben sie den Grenzfluss, die Wakenitz, überquert und fressen nun in Mecklenburg die Rapsfelder kahl. Wäre man Landwirt, müsste man also wohl sagen: 2016 war ein schlechtes Jahr.

Hans-Friedrich Grube ist Landwirt im mecklenburgischen Hornstorf. „Zweieinhalb Hektar Raps haben die Nandus schon vernichtet“, stöhnt er. Tatenlos musste er zusehen, wie die Vögel die im August ausgesäten und dann recht schnell wachsenden Pflanzen anknabberten. „Sie fressen die Blattmasse bis zum Stängel ab und gehen dann auch noch an die Wurzeln ran“, sagt er. Kann man sie denn nicht verscheuchen, Herr Grube? „Das können Sie ja gern mal versuchen“, sagt der Landwirt. „Sobald Sie vom Feld runter sind, sind die Nandus wieder da. Die sind ja nicht blöd. Und sie haben keine Scheu. Selbst ein Hund hilft da nichts.“

Die Nandus, so scheint es, haben nach ihrer Flucht aus dem Gehege einfach Schwein gehabt. Natürliche Gegner gibt es hier nicht. In der Pampa von Südamerika machen Pumas und Jaguars Jagd auf die flugunfähigen Tiere, die bis 1,75 Meter groß werden und an die 35 Kilogramm wiegen. Auch der Mensch fällt hier als Feind aus, denn die Nandus stehen unter doppeltem Schutz. Sowohl das Washingtoner Artenschutzabkommen als auch das Bundesnaturschutzgesetz verbieten es, die Vögel zu jagen.

Auch einem weiteren Gegner sind derzeit die Hände gebunden: dem Winter. Der Klimawandel führt zu immer milderen Wintern, die die Nandus problemlos überstehen. „Mit niedrigen Temperaturen haben sie ohnehin kein Problem“, erklärt Frank Philipp, Nandu-Beauftragter des Landes Mecklenburg-Vorpommern. „Schwierig wird es nur, wenn über einen längeren Zeitraum Schnee liegt, dann kommen sie nicht mehr an die Nahrung heran. Aber das gibt es ja schon seit Jahren nicht mehr.“

Mit anderen Worten: Die Vögel leben im Paradies. Auch die deutsche Einheit hat ihnen dabei in die großen Flügel gespielt. Entlang der Wakenitz verlief die innerdeutsche Grenze. Im Schatten der Grenzsperren hat sich unberührte Natur entwickeln, die erhaltenswert ist. Die Nandus sind nun doppelt gesichert: Die geschützten Tiere leben in einem Naturschutzgebiet, dem Biosphärenreservat Schaalsee. Ein weiteres Anwachsen der Kolonie scheint damit unausweichlich zu sein. Die Zahlen sprechen für sich. 2008 hat Frank Philipp nur 35 Tiere gezählt, im November 2016 waren es schon rund 250. Wobei es auch andere Beobachtungen gibt. „Wir haben hier momentan mindestens 400 bis 500 Tiere“, sagt Landwirt Grube. „Die sind überall.“

Selbst Nandu-Schützer Philipp findet mittlerweile, dass irgendetwas geschehen muss. „Wenn 20 Nandus auf einem Feld stehen und fressen, hat der Landwirt ein Problem“, sagt er. Was also tun? Im Grenzgebiet erzählt man abenteuerliche Geschichten. Jede Nandu-Henne legt zwischen 20 bis 40 Eier im Jahr. Könnte man ihr die nicht einfach wegnehmen? Das wäre illegal, dennoch hat es angeblich Versuche gegeben. Aber sie scheiterten. Die Gelege sind zu gut versteckt. Die Vögel haben sich im Norden angewöhnt, was sie in Südamerika aus Mangel an Wald nie getan haben – sie brüten nun auch unter Bäumen.

Sollte man die Tiere bejagen? Erlaubt ist das momentan nicht. Würden sich Jäger finden, wenn es erlaubt wäre? Philipp bezweifelt das. „Der Nandu hat Sympathiewerte, das ist nicht so wie beim Wolf“, sagt er.

Gerade dieser böse Wolf wird derzeit zu einem Hoffnungsträger – als mutmaßlicher neuer Feind des Einwanderers aus Südamerika. Einwanderer bekämpft Einwanderer: Kann das klappen? „Ich würde es nicht ausschließen“, sagt Frank Philipp. Landwirt Grube hält nichts davon. „Vögel gehören nicht zum Beuteschema des Wolfes“, sagt er.

Grube bleibt wohl mit seinem Problem allein. Vom Schweriner Landwirtschaftsministerium bekommt er bislang kein Geld für die Nandu-Schäden. Marion Zinke, Büroleiterin des Landwirtschaftsministers Till Backhaus (SPD), sagt nun immerhin: „Wir wollen im ersten Quartal 2017 Problemlösungen erarbeiten.“ Aber: „Man kann nicht immer nur Geld fordern, der Landwirt hat auch eine Eigenverantwortung.“ Das Schwarze-Peter-Spiel hat schon begonnen. Der Nandu, so scheint es, kann sich bequem zurücklehnen. 2017 wird ein großartiges Jahr.