Oerel/Hamburg. 40 Prozent aller Bahnübergänge sind technisch nicht gesichert. Hier passieren viele schreckliche Unfälle – meist aus Unachtsamkeit.

Ein staubiger Feldweg, ein schmuddeliges Andreaskreuz, das lange nicht mehr gereinigt und noch länger nicht erneuert wurde: Das ist der Bahnübergang in Oerel unweit von Stade, an dem am vergangenen Dienstag gegen 15.45 Uhr eine 28-Jährige, ihre vier Jahre alte Tochter und ihr einjähriger Sohn starben. Sie starben, weil sie den herannahenden Zug nicht bemerkten. Der Triebwagen traf den VW Golf der kleinen Familie mit voller Wucht. Am Tag danach stellt sich die Frage: Hätte dieser schreckliche Unfall verhindert werden können?

Immer wieder kommt es zu Horrorunfällen an Bahnübergängen. An unbeschrankten Bahnübergängen wie in Oerel ist die Unfallgefahr besonders hoch. Im Jahr 2014 passierten deutschlandweit 171 Unfälle an Bahnübergängen im Netz der Deutschen Bahn, 92 davon an unbeschrankten Übergängen.

Unfälle an unbeschrankten Bahnübergängen

9.Juli 2016

Ein Auto kollidiert an einem unbeschrankten Bahnübergang in Vechta (Niedersachsen) mit einem Zug. Der 38-jährige Autofahrer hatte versucht, mit überhöhter Geschwindigkeit den Bahnübergang überqueren. Dabei stößt er seitlich gegen einen Zug der Nord-West-Bahn. Der 38-jährige Vechtaer kommt mit nur leichten Verletzungen ins Krankenhaus.

19.Mai 2016

Ein Güterzug rammt auf einem unbeschrankten Bahnübergang nahe Brunsbüttel (Schleswig-Holstein) einen Pkw. Das Auto wird rund 150 Meter weit mitgeschleift. Der 50 Jahre alte Fahrer wird in seinem Fahrzeug eingeklemmt. Ein Hubschrauber bringt den schwer verletzten Mann in ein Krankenhaus.

15. Mai 16

Am Pfingstsonnabend erfasst ein Zug auf der Strecke zwischen Tönning und St. Peter-Ording das Auto eines 51-Jährigen auf einem unbeschrankten Bahnübergang. Der Lokführer sieht das Fahrzeug kommen, hupt und versucht, mit einer Notbremsung das Unglück zu verhindern. Dennoch stirbt der Fahrer. Die beiden mitfahrenden Kinder, ein zwölfjähriger Junge und ein neunjähriges Mädchen,befreien sich aus eigener Kraft aus dem Autowrack.

15. Mai 2016

Beim Zusammenstoß mit einer Ausflugsbahn sterben in Gütersloh in Nordrhein-Westfalen zwei von drei Familienmitgliedern in einem Kleinwagen. Der mit 36 Leuten besetzte Zug erfasst das Auto an einem Bahnübergang. Im Auto sitzt ein 24-Jähriger mit seinen Eltern. Der Vater (45) und die Mutter (43) sterben sofort, der Fahrer überlebt schwer verletzt.

7. April 2016

Bei einer Kollision mit einem Zug auf einem unbeschrankten Bahnübergang im Kreis Cloppenburg (Niedersachsen) wird ein Lastwagenfahrer schwer verletzt. Der 30 Jahre alte Mann fährt in Emstek trotz des herannahenden Zuges mit seinem Fahrzeug über die Gleise. Bei dem Aufprall wird die Zugmaschine abgerissen. Der 30-Jährige kommt mit einem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus.

28. März 2016

Ein Autofahrer stirbt bei einem schweren Unfall mit einem Zug in Telgte (Nordrhein-Westfalen). Der 44-Jährige fährt am Karfreitag mit seinem Wagen über einen schrankenlosen Bahnübergang. Dabei übersieht er den aus Warendorf kommenden Zug übersehen. Der Mann stirbt noch an der Unfallstelle, seine 33 Jahre alte Frau kommt schwer verletzt in eine Klinik.

8. Oktober 2015

Ein 74 Jahre alter Autofahrer wird in Dorum (Niedersachsen) auf einem unbeschrankten Bahnübergang von einem Zug erfasst und lebensgefährlich verletzt. Die Insassen des Zuges bleiben unverletzt.

7. September 2015

Beim Wenden auf einem unbeschrankten Bahnübergang in Escheburg im Kreis Herzogtum Lauenburg kollidiert eine 30-Jährige in ihrem Fahrzeug mit einer historischen Dampflok. Die Frau erleidet einen Schock. Der Lokführer und die 20 Fahrgäste des Museumszuges bleiben unverletzt. Das Auto der Frau hat nur noch Schrottwert.

11. Mai 2015

Bei einem Unfall in Tönning stirbt ein fünfjähriger Junge aus Hamburg. Der Großvater, der am Steuer des Audi sitzt, übersieht einen herannahenden Zug. Er wird verletzt, ebenso die Mutter des Kindes. Einzig die zweijährige Tochter bleibt unverletzt.

12. November 2014

Bei einem Unfall in Rehden (Niedersachsen) stirbt eine 45-Jährige. An einem unbeschrankten Bahnübergang übersieht sie eine von links herannahende Diesellok. Die Lok prallt in die Fahrerseite des Autos, das eine Böschung hinuntergeschleudert wird. Die Fahrerin stirbt noch an der Unfallstelle.

1/10

Ein besonders spektakulärer Unfall auf einem Bahnübergang im Landkreis Stade passierte vor fast einem Jahr. Damals krachte ein Metronom in einen Bus. Personen kamen nicht zu Schaden. Die Schüler die sich in dem Bus befanden hatten, sahen den Zug kommen und konnten den Bus vor dem Zusammenstoß verlassen. Ein Schüler filmte den Unfall damals mit seinem Handy.

Wie kommt es zu den Unfällen?

Warum übersehen Autofahrer Andreaskreuze, Warnhinweise und Blinklichter an unbeschrankten Bahnübergängen? „Ursache ist in vielen Fällen Zeitdruck und der Irrglaube, die Situation unter Kontrolle zu haben“, sagt ADAC-Sprecher Hans Duschl. Zudem ergebe sich die Gefahr einer Routinehandlung. „Beim ersten Fehlverhalten liegt die Hemmschwelle vielleicht noch hoch, wenn jedoch beim wiederholten Male nichts passiert, sinkt das Risikobewusstsein“, so Duschl. 95 Prozent aller Unfälle an Bahnübergängen sind laut Duschl auf Fehlverhalten der Autofahrer oder Fußgänger zurückzuführen. Unkenntnis der Verkehrsregeln, Unaufmerksamkeit und Leichtsinn spielten dabei eine Rolle. Auch die Missachtung der technischen Einrichtungen, wie das Umfahren von Halbschranken, sei eine häufige Unfallursache.

Im Netz der Deutschen Bahn (DB) in Deutschland gibt es derzeit 17.509 Bahnübergänge. Etwas weniger als die Hälfte davon sind technisch nicht gesichert, haben also nur Andreaskreuze. Die Strecke in Oerel gehört nicht zum DB-Netz, sondern wird von der den Eisenbahnen und Verkehrsbetrieben Elbe-Weser GmbH (evb) betrieben, die sich sich mehrheitlich im Besitz des Landes Niedersachsen befindet. In Schleswig-Holstein sind von 911 Bahnübergängen im Netz der Deutschen Bahn 369 unbeschrankt, in Hamburg gibt es unter 27 Bahnübergängen nur einen unbeschrankten. In Niedersachsen sind von 2146 Bahnübergängen 785 ungesichert.

ADAC empfiehlt rote Ampel an Bahnübergängen

Forschungsergebnisse des Instituts für Verkehrssystemtechnik am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Braunschweig haben gezeigt, dass ein Großteil der Straßenverkehrsteilnehmer an unbeschrankten Bahnübergägnen gar nicht erst nach einem sich nähernden Zug schaut. Um an unbeschrankten Bahnübergängen künftig Unfälle zu verhindern, haben die DLR-Forscher in Braunschweig ein neues Warnsystem entwickelt: eine Anlage, die einen Blitz auslöst, sobald sich ein Auto einem unbeschrankten Bahnübergang nähert. „PeriLight“ ist eine LED-Blitzlichtquelle, die neben den Gleisen, etwa 40 bis 60 Meter links und rechts vom Bahnübergang aufgestellt wird. Passiert der Autofahrer einen Sensor, wird die Blitzlicht-Anlage automatisch ausgelöst. Das pulsierende Licht zieht die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer auf sich.

„Unser System macht sich automatische Prozesse der visuellen menschlichen Informationsverarbeitung zunutze“, sagt Jan Grippenkoven, DLR-Projektverantwortlicher. „ Durch das Licht wird die visuelle Aufmerksamkeit des Verkehrsteilnehmers automatisch in Richtung der Lichtquelle gezogen.“ Das korrekte Verhalten am Bahnübergang werde instinktiv ausgelöst. Wann die ersten Anlagen aufgestellt werden, ist noch nicht bekannt. Das DLR sucht derzeit nach einem Betreiber und Herstelller für eine Langzeittestphase für das Warnsystem.

Der ADAC empfiehlt, statt eines Blinklichts an unbeschrankten Bahnübergängen eine dauerhaft rote Ampel zu installieren, da diese bei Autofahrern aus dem restlichen Straßenverkehr bekannt ist und eindeutig für „ Stopp, stehen bleiben“ steht. Derweil haben sich die Deutsche Bahn, ADAC, gesetzlichen Unfallversicherern und der Bundespolizei zusammengetan und informieren mit der Kampgagne „sicher drüber“ Verkehrsteilnehmer für das richtige Verhalten und Gefahren am Bahnübergang zu sensibilisieren.