Viele Schulabgänger tun sich schwer mit der Berufsfindung. Deshalb arbeiten viele erst einmal im Ausland.

Vielleicht wird ihr ja 9000 Kilometer von zu Hause entfernt klarer werden, welchen Beruf sie einmal ergreifen könnte. Das hofft Nadja zumindest. Im Oktober fliegt die 18-Jährige aus Wulfsen bei Hamburg nach Potchefstroom südwestlich von Johannesburg. Organisiert vom Deutsch-Südafrikanischen Jugendwerk, wird sie in dem 43.000-Einwohner-Städtchen ein halbes Jahr lang die Mitarbeiter eines Kinderheims unterstützen. Vor allem, weil sie sich für soziale Arbeit interessiert, aber auch, um sich in einer neuen Umgebung zu erproben, um Selbstständigkeit zu üben – und so die Unruhe und Unordnung in ihrem Kopf in den Griff zu bekommen.

Denn Nadja fühlt sich getrieben. Vor drei Monaten legte die junge Frau ihre letzte Abiturprüfung ab. Seitdem hat sie sich zwar etwas entspannt, „was schön war, aber auch ungewohnt“. Das muss nun reichen, findet sie. Statt viel Freizeit hätte sie lieber einen langfristigen Plan. „Ich weiß wirklich nicht, was ich später machen möchte – das stresst mich schon ziemlich.“

Eine Ausbildung im Anschluss an die Auszeit in Südafrika? Denkbar. Ein Studium? „Kann ich mir vorstellen, aber nicht sofort“, sagt Nadja. Einfach mal loslegen mit einem Fach, das sie interessiert? „Ich will nichts studieren, womit ich mir nicht hundertprozentig sicher bin.“ Was wäre schlimm daran? „Ich habe einfach Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen“, sagt Nadja. „Wenn ich das Fach abbrechen müsste, hätte ich vielleicht ein Jahr verschwendet.“

Mit ihrer Unsicherheit steht die Schulabgängerin nicht alleine. Eine Umfrage von 2014 im Auftrag der Vodafone Stiftung ergab, dass jeder vierte Schüler besorgt ist, wie es nach der Schule beruflich weitergeht. Zudem gab – unabhängig von der besuchten Schulart – fast die Hälfte der befragten Schüler an, dass ihr die Berufswahl schwerfalle. Nur knapp ein Drittel hat eine konkrete Vorstellung von der beruflichen Zukunft. Jeder Fünfte tappt völlig im Dunkeln.

„Es gab natürlich auch früher schon Schulabgänger, die zunächst planlos waren“, sagt Carsten Ebbinghaus von der Agentur für Arbeit in Hamburg, der seit 1991 Abiturienten berät. Heute werde allerdings schon in der Mittelstufe über Ausbildungen und Studiengänge gesprochen. Für einige Schüler werde das Thema Berufswahl dann bis zum Abitur so wichtig, dass sie sich kaum für einen Weg entscheiden könnten.

Dass sich mehr Abiturienten als früher gehetzt fühlten, habe auch mit G8 zu tun, also der um ein Jahr verkürzten Schulzeit, sagt Veronika Latzel, Geschäftsführerin von Struss + Partner, einer privaten Agentur für Karriereberatung in Winterhude. „Die jungen Leute scharren mehr mit den Hufen; sie beschäftigen sich unheimlich ernsthaft mit der Berufswahl – das war früher verspielter“, sagt die studierte Pädagogin.

Rund 10.000 grundständige Studiengänge stehen zur Wahl

Wer ernsthaft vorgeht, hat deshalb aber noch lange keinen Durchblick. „Etliche unserer jungen Klienten sind zwar gut informiert über bestimmte Trends und Begriffe, die sie interessant finden, etwa das Internet der Dinge“, sagt Latzel. „Aber sie wissen oft nicht, ob das zu ihnen passt und wie sie in diesem Bereich einen Job finden.“

Die enorme Fülle an Optionen überfordert viele Schulabgänger. Wer sich für ein Studium in Deutschland interessiert, dem bietet sich eine Auswahl von rund 10.000 grundständigen Studiengängen (überwiegend Bachelor) an 387 Hochschulen; hinzu kommen rund 8500 weiterführende Studiengänge. Daneben gibt es mehr als 300 Ausbildungsberufe.

Einer Studie des Deutschen Zen­trums für Hochschul- und Wirtschaftsforschung zufolge sagten zwar 40 Prozent der Abiturienten des Abschlussjahrgangs 2012 ein halbes Jahr vor dem Abschluss, dass sie sich umfassend über Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten informiert fühlten – 2010 ging dies 33 Prozent so, 2006 fühlten sich nur 27 umfassend informiert. Gleichwohl gaben 43 Prozent der Befragten 2012 an, dass ihnen die „schwer überschaubare Zahl der Möglichkeiten“ Schwierigkeiten bereite.

Worum genau geht es etwa in Studiengängen wie Angewandte Familienwissenschaften und Kultur der Metropole? Worin besteht der Unterschied zwischen International Management und International Business? „Teilweise hilft es nur, die Modulhandbücher für zwei Studiengänge genau durchzugehen, um so vielleicht festzustellen, dass diese sich nur durch zwei Seminare unterscheiden“, sagt Carsten Ebbinghaus.

Einige Abiturienten seien ohnehin mit einer Ausbildung besser beraten, sagt Ebbinghaus. Weil immer mehr Schüler Abitur machten, fühlten sich zunehmend auch diejenigen zu einem Studium berufen, die eigentlich nicht die nötigen Fähigkeiten mitbringen.

Mehr Schulabgänger als früher kämen heute in Begleitung ihrer Eltern zur Beratung, sagt Birte Schelling, stellvertretende Leiterin der Zentralen Studienberatung und Psychologischen Beratung der Uni Hamburg. Dabei gehe es den jungen Leuten allerdings oft um Unterstützung beim Verständnis des Bewerbungsprozederes, seltener um die Wahl eines Studiengangs. „Die Konkurrenz um Studienplätze ist größer geworden, deshalb kommt von Abiturienten häufiger die Frage, ob sie ihre Chancen irgendwie verbessern können.“ Ausschlaggebend seien aber nach wie vor nur die Durchschnittsnote der Hochschulzugangsberechtigung und die Wartezeit.

Apropos Wartezeit: Viele Abiturienten schieben die Entscheidung für eine Ausbildung oder einen Studiengang erst einmal auf – und gehen ins Ausland. Das könne sehr sinnvoll sein, sagt der Psychologe Enno Heyken, Inhaber der Psychodiagnostischen Beratungspraxis in Wandsbek. „Wo steht man denn, wenn man mit 23 seinen Master macht und eine Stelle antreten will? Da fehlt es häufig an Lebenserfahrung“, sagt Heyken, der seit 27 Jahren Abiturienten berät. „Ein Auslandsaufenthalt hilft zwar nicht zwingend dabei, einen Beruf zu finden, kann aber wertvolle Erfahrungen bringen und zur sozialen Reifung beitragen.“

So sieht es auch Marie. Die 18-Jährige aus Bargteheide hat ihr Abi mit der Traumnote 1,0 absolviert – sie hätte bei Studienplätzen freie Auswahl. Stattdessen arbeitet die junge Frau aber erst einmal von September an in Amsterdam als Freiwillige in dem jüdischen Pflegeheim Beth Shalom, organisiert von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Vorgesehen sei, dass sie die Bewohner etwa bei Spaziergängen und bei Arztbesuchen unterstütze, sagt Marie. „Mein Leben war bisher einfach und gut – ich habe das Bedürfnis, etwas zurückzugeben.“

Sie interessiere sich für soziale Arbeit, aber auch für historische und politische Fragen, erzählt sie. „Den Freiwilligendienst im Beth Shalom finde ich auch deshalb spannend, weil ich dort mehr über die jüdische Kultur und Religion erfahren werde.“

Was sie danach tun wird, ist zwar noch unklar. „Auf jeden Fall ein Studium, vielleicht Psychologie oder Medizin. Oder ein Fach, mit dem ich später etwas mit Menschenrechten machen kann – ich habe auf so vieles Lust“, erzählt Marie. Reisen möchte Marie, die schon auf dem Jakobsweg wanderte, auch. „Afrika reizt mich.“

Julius Fetköter
(18) aus Volksdorf
beginnt nun ein
Studium an der
privaten Bucerius
Law School in
Hamburg
Julius Fetköter (18) aus Volksdorf beginnt nun ein Studium an der privaten Bucerius Law School in Hamburg © HA | Roland Magunia

Anders als Nadja beunruhigt Marie die Ungewissheit nicht. „Es mag angenehm sein, schon früh ganz konkrete Ideen zu haben. Aber das macht einen vielleicht auch unflexibel“, sagt sie. „Ich bin noch so jung – ich habe nicht das Gefühl, Zeit zu verlieren.“

Genau festlegen möchte sich auch Jonathan noch nicht. Trotzdem wollte der 18-Jährige aus Otmarschen schon vor seinem Abi genauer wissen, wo es hingehen könnte. „Grob etwas in Richtung Wirtschaft“, vielleicht im Ausland – mit diesen Ideen ließ Jonathan sich im Juni bei Struss + Partner coachen. Dazu absolvierte er mehrere Tests, die Eigenschaften, Verhalten, Motivation und Lernverhalten erfassen sollen, und ein Gespräch mit einer Beraterin.

Die überraschendste Erkenntnis betraf seine Persönlichkeit: „Mir war vorher sehr wichtig, was andere Menschen – vor allem Freunde – über mich denken. Der Status zählte. Die Beraterin machte mir klar, dass ich mich davon lösen und mein eigenes Ding machen muss“, erzählt Jonathan.

1500 Euro für eine Berufsberatung

Herausgestellt habe sich außerdem, dass er relativ leicht ablenkbar sei. Die Beraterin riet deshalb von einem Studium in Metropolen wie Berlin oder London ab, empfahl stattdessen für das Studium die Universität Maastricht, die bekannt ist für ihre international ausgerichteten Studiengänge. „Maastricht ist eine Studentenstadt, aber man wird von der Uni dort stärker betreut als an anderen Hochschulen. Das könnte für mich besser sein“, sagt Jonathan. Die Beraterin brachte auch eine vorangehende Ausbildung ins Spiel. Nun macht der 18-Jährige erst einmal ein Praktikum im Unternehmen seines Großvaters. Danach, sagt Jonathan, wolle er vielleicht mit Freunden durch Südamerika reisen.

1500 Euro kostete die eintägige Berufsberatung. „Es hat sich auf jeden Fall gelohnt“, sagt Jonathan.

Keine teure Beratung brauchte Julius Fetköter. Ihm sei schon zwei Jahre vor dem Abitur klar gewesen, dass er Jura studieren wollte, erzählt der 18-Jährige aus Volksdorf. Nachdem er einige Vorlesungen besucht und Infobroschüren gelesen hatte, stand sein Entschluss fest. „Ich glaube, dass ich die Fähig­keiten habe, die man dazu braucht, etwa analytisches Denken, und mich reizen die vielen Möglichkeiten, die Jura bietet, dass man damit auch in der Politik, in der Wirtschaft und im Auswärtigen Amt arbeiten kann“, sagt Fetköter.

Genau festlegen wolle er sich jetzt noch nicht – aber das sei für ihn kein Grund, das Studium aufzuschieben. „Ich habe einfach Lust darauf, sofort weiterzulernen, und ich freue mich auf das Studentenleben.“ Zum Wintersemester beginnt Fetköter ein Studium an der privaten Bucerius Law School in Hamburg. Die Studiengebühren von 48.000 Euro hätten seine Eltern nicht bezahlen können. Fetköter hatte aber das Glück, einen von etwa 30 umgekehrten Generationenverträgen (UGV) zu ergattern. So nennt die renommierte Hochschule das Angebot, Studierende von Gebühren zu befreien, wenn sie sich verpflichten, als Berufstätige zehn Jahre lang jährlich neun Prozent ihres Bruttoeinkommens an die Hochschule zu zahlen. „Ein faires Angebot“, findet Fetköter.

Was, wenn sich das Jurastudium als unpassend herausstellt? „Hundertprozentig kann man es vorher nie wissen“, sagt Fetköter. „Ich bin jetzt hoch motiviert. Alles weitere wird sich finden.“