Urlaub im Wohnwagen oder im Zelt hat Konjunktur. Campingplätze an der Ostsee sind heiß begehrt. Unser Autor macht den Test.
Gibt es etwas Unangenehmeres, als zu einer Veranstaltung zu spät zu kommen, die Saaltür zu öffnen und alle Augen auf sich gerichtet zu sehen? Genau dieses Gefühl steigt in dir hoch, wenn dir ein Platzwart deinen Platz auf der Zeltwiese zuweist, um dann mit seinem Elektrorollstuhl sofort wieder zurück zum Haupteingang zu summen. Denn die Hochsaison hat begonnen, und vor dem rot-weißen Schlagbaum des Campingplatzes Südstrand in Neustadt stauen sich die Wohnwagengespanne und Wohnmobile – so wie früher die Lastwagen an der Grenze zu Österreich, als es den europäischen Binnenmarkt noch nicht gab.
Wenn du jetzt also mit verschwitztem Rücken aus deinem Auto steigst und freundlich nickend deine direkten, neuen Zelt- und Wohnwagennachbarn grüßt, die unter Schatten spendenden Vorzelten auf bequemen Campingstühlen um Plastiktische sitzen und neugierig zu dir herüberlinsen, gibt es kein Zurück mehr: Du bist im Fokus, wenn du dein geliehenes Zelt aus dem Kofferraum holst, auf dem dichten, kurz geschorenen Rasen, vor dem sogar die Maulwürfe Respekt haben, ausbreitest, und checkst, dass sich die Konstruktion dieser federleichten, wasserundurchlässigen und windresistenten Behausung aus Nylon und Polyester, aus Moskitonetzen, Klappen, Ösen, Schlaufen, Bändseln, Haken, Fiberglasstangen und Heringen in den vergangenen drei Jahrzehnten entscheidend geändert hat. Wo ist eigentlich der verdammte Eingang?
Die Campingprofis gucken weiterhin ungerührt zu dir rüber, und du weißt, was sie denken. Dass du ein Horst bist, werden sie denken, ein ahnungsloser Städter. Was stimmt. Aber dann stellst du ebenfalls fest, dass sich zumindest eines in den vergangenen 30 Jahren nicht geändert hat: die ungeheure Solidarität, die in Symbiose mit dem kumpelhaften „Du“ den wesentlichen Charakterzug des Campers manifestiert. Seine Hilfsbereitschaft. Du musst dich nur verlegen im Nacken kratzen, angestrengt wirken, ratlos und überfordert (was auch stimmt), dann wird sich irgendwer aus seinem Campingstuhl erheben, um dir beim Zeltaufbau zur Hand zu gehen.
In deinem Fall heißt dieser rettende Irgendwer Bianca, die ihren Kaffee unter dem Vordach ihres Viermannzeltes kalt werden lässt. Bianca wirft einen prüfenden Blick auf das Durcheinander auf dem Rasen und weiß sofort, was zu tun ist. Schon wirst du fachmännisch angeleitet, schon baut sie geduldig all das zurück, was du Vollpfosten falsch zusammengesteckt und eingefädelt hattest, und ruck, zuck steht dein Zelt. War doch ganz einfach. „Aber hier noch mal nachspannen“, mahnt sie, „und da müssten noch zwei Heringe hin. Haste denn ’n Hammer?“ Hast du. Aber deine Taschenlampe hast du vergessen.
Dann kommt dieser Oberschlaumeier in rosafarbenen Clogs vorbeigeschlurft, der dir nachdrücklich empfiehlt, das Zelt zu verschieben, ein paar Meter den Hang rauf: „In der Senke kommt das Wasser von allen Seiten, weißte? Genau da sind beim Unwetter letzte Woche ein paar Leute total abgesoffen.“ Logisch. Wasser fließt von oben nach unten, und bisher war dieser Sommer von Starkregen geprägt.
Viele Dauercamper haben seit 40 Jahren dieselbe Parzelle
Wieder was gelernt. So ziehst du dein Zelt, nachdem du insgesamt 18 Heringe wieder aus dem Boden rausgezogen hast, aus dem Überschwemmungsgebiet hinaus, schwingst noch mal den Hammer, aber dann wirst du von Bianca zum Kaffee eingeladen, wo du dich erschöpft auf den Campingstuhl plumpsen lässt und erfährst, dass sie und ihr Mann Sven – der gerade vom Duschen zurückkehrt – zwei Wochen ihres Jahresurlaubs auf diesem Campingplatz verbringen. Seit Jahren schon, immer im Zelt, „was für die Kinder ein ganz anderes Schlafen ist“, meint sie, die seien wegen der frischen Luft zum Glück abends todmüde.
„Nur bei Regen muss man sich was für die Kinder ausdenken. Und dann wird es meistens teuer“, wirft ihr Mann ein und schielt skeptisch hinauf in den gräulichen Himmel. Allein der Eintritt für die Freizeitanlage Hansa-Park koste die Familie schon 101 Euro; wenn Ben demnächst vier werde, 29 Euro mehr, und dann kämen ja auch noch Pommes, Cola und Eis hinzu.
Bianca (37) und Sven (41) leben in Northeim in Niedersachsen. Etwa 500 Euro zahlen sie für die 14 Tage Aufenthalt, Warmwasser und Strom inklusive. Es ist die einzige Urlaubsreise, die sie sich im Jahr gönnen. Aber es geht aufwärts. Inzwischen reisen sie mit einem kleinen Anhänger. „Wir haben mit einer Kühlbox angefangen. Inzwischen sind wir beim Kühlschrank“, sagt Bianca stolz und deutet auf ein schwarzes 220-Volt-Kabel. Es führt von einem Verteilerkasten ins Vorzelt, das von einer prächtigen Unordnung dominiert wird, aber sie meint lapidar, dass es sinnlos sei, aufzuräumen. „In nicht mal einer Stunde sieht das da drin wieder genauso aus. Man ist eben immer was am Suchen, das gehört dazu.“
Tiefenentspanntes Abschalten. Das ist es, was Bianca und Sven wollen, das ist es, was das Campen ihnen gibt. „Niemand zwingt dich, was zu tun, und wenn du doch mal was tun musst, kannst du das auch eine halbe Stunde später erledigen. Das Zeitgefühl geht bei all dieser Freiheit, die man hier hat, verloren“, schwärmt Sven, der als Maschinenführer bei Continental arbeitet. Sie könnten sich durchaus einen Wohnwagen vorstellen, lieber noch ein Wohnmobil. Aber das sei natürlich immer eine Geldfrage, sagt Sven.
„90 Prozent unserer Gäste buchen inzwischen online“
„Familien sind unsere Kernzielgruppe“, sagt Boy Hoff (39), der den Campingplatz Südstrand, gegründet 1960 zwischen Neustadt und Pelzerhaken an der Ostsee, in dritter Generation führt. Es ist einer von rund 2600 Campingplätzen in Deutschland, aber vermutlich einer der schönsten an den schleswig-holsteinischen Küsten. „Ziel muss es sein, dass Eltern auch mal allein am Strand liegen können und die Kinder trotzdem ihren Spaß haben“, sagt Hoff. Er hält 512 Stellplätze für Wohnwagen und Wohnmobile vor, zwei Urlauberwiesen, auf denen die rollenden Häuser und Zelte einträchtig nebeneinanderstehen, sowie zwei weitere große Zeltwiesen. Es gibt vier Sanitärgebäude, ein Freizeit- und Spielhaus, einen Bolzplatz, eine Swingolfanlage und einen großen Spielplatz, brandneu.
Neu ist auch das imposante Verwaltungsgebäude, in dem er jetzt auch Ferienwohnungen mit bis zu drei Schlafzimmern vermietet, für 100 bis 200 Euro pro Tag, je nach Größe. In die Zentrale sind außerdem noch zwei Saunen integriert, dazu ein Café-Restaurant mit respektabler Sonnenterrasse, aber mit noch respektableren Kuchen und Torten, die ausschließlich nach den Rezepten von Boy Hoffs Mutter gebacken werden und zumeist schon am frühen Nachmittag ausverkauft sind.
Hoff beschäftigt rund 20 Angestellte, darunter auch Kinderanimateurinnen. Es ist Saisonarbeit, und die ist knallhart. Yvonne Kurlbaum (39), die Restaurantleiterin, keult täglich von sechs Uhr morgens bis 23 Uhr abends, an sieben Tagen in der Woche, „aber so ist das eben bei uns an der Küste“, sagt sie fröhlich. Im November, wenn der Platz schließt, fliegt sie mit ihrem Mann erst einmal in die Sonne, möglichst vier Wochen lang. Ihr Gatte ist einer der Platzwarte, sie bewohnen eine großzügige Einliegerwohnung im ersten Stock des Verwaltungsgebäudes. So sehe man sich wenigstens nachts, meint Yvonne. In diesem Moment fällt dir ein, was Bianca gesagt hat: „Daran ist im Zelt mit den Kindern natürlich nicht zu denken.“
Hoff, im Parallelleben Landwirt, sieht seine Frau Lena und seine beiden Töchter während der Saison ebenfalls nicht so häufig. „Wir sind gut ausgelastet. 90 Prozent unserer Gäste buchen inzwischen online“, sagt er. Seine Frau kümmere sich daheim auf dem Hof, den er mit einem Partner bewirtschaftet („Nee, keine Kühe – die kommen bei uns nur auf den Teller!“), um die Buchungen, es sei ein Fulltime-Job.
Er hat seinen Campingplatz, den er vor vier Jahren vom Vater übernahm, ebenso mächtig wie bedächtig aufgerüstet. Auf einen eigenen Supermarkt hat er verzichtet, man kann nur Brötchen und das Notwendigste kaufen, denn Hoff denkt und handelt ganzheitlich, im Sinne seiner Stadt, die wirtschaftlich stark vom Tourismus abhängig ist. „Gerade für den Einzelhandel sind unsere insgesamt fünf Campingplätze ein Segen“, sagt der Unternehmer, „der hat sich entsprechend auf unsere Kundschaft eingestellt, und das soll auch so bleiben.“
Er setzt aufs Anhalten, vielleicht sogar eine weitere Steigerung des Campingbooms, den die Branche zurzeit erfährt. In den nächsten zwei Jahren wird er zwei der alten Waschhäuser komplett sanieren. Die Klientel werde schließlich immer anspruchsvoller, sagt er. „Wir registrieren immer mehr Akademiker, die ihre Kinder wieder an die Natur ranführen wollen. Aber das Tolle ist, dass Camping keine Standesunterschiede kennt.“ Überhaupt sei es bloß ein überholtes Klischee, dass diese Urlaubsform nur was für Billigheimer sei, die den ganzen Tag Dosenbier trinken und das Kofferradio dudeln lassen. „Da stehen größtenteils echte Werte auf dem Platz, gerade was die Dauercamper betrifft oder die Wohnmobile, aus denen schon mal ein Smart rausrollt. Dafür könnte man locker ein komfortables Einfamilienhaus bauen.“
„Der Camper-Smoking“
Was alle Camper, ob klamm oder gestopft, jedoch eine, seien nach wie vor die Jogginganzüge. „Der Camper-Smoking“, grinst Hoff und lässt seinen Blick über die Neustädter Bucht schweifen. Die Ostsee ist heute ruhig, der Wind schwach, ein paar Dutzend Segelboote dümpeln trotzdem draußen auf dem Meer, doch die Bojen in unmittelbarer Strandnähe, an denen die Camper ihre Bötchen festmachen können, sind verwaist. „Leider ist in diesem Jahr kaum Dorsch da. Nicht mal der Hering lässt sich blicken!“, sinniert Hoff mit aufrichtigem Bedauern. Aber wenn der Camper dann eben nicht angeln könne, gebe es immer noch was zu reparieren, zu putzen, zu suchen, zu verbessern oder zu verschönern. „Wer einen Wohnwagen besitzt, wird praktisch nie fertig“, sagt Hoff.
Der weite Blick über die Bucht ist das große Plus des Campingplatzes Südstrand, der leicht hügelig zum Wasser hin abfällt und erst am Strand, in einer abgesicherten Badezone, endet. Bis zu 1500 Menschen gleichzeitig können hier in Südlage ihren Urlaub verbringen oder den Platz von Ostern an bis Ende Oktober als Wochenenddomizil nutzen. Oder beides.
Das betrifft in der Hauptsache die Dauercamper, die man anhand ihrer aufgebockten Wohnwagen leicht identifizieren kann. Weitere Indizien sind die festen Vorzelte und stabilen Umrandungen, häufig zum Preis eines Kleinwagens; darüber hinaus Terrassen und nicht selten auch Blumenbeete, manchmal ein Fahnenmast, aber immer alles picobello. Die Parzellen ähneln denen der klassischen Laubenpieper – mit dem Unterschied, dass Camper ihre Autos auf ihrem Grundstück parken dürfen. Und das sind fast ausschließlich Modelle der oberen Mittelklasse oder der Oberklasse, allein der Zugkraft wegen. Denn man könnte abbauen und reisen, man könnte, aber man muss es nicht, denn das Gras auf der anderen Seite des Hügels ist nicht grüner. Irgendwann will man dann gar nicht mehr weg.
Die meisten Parzellen der Dauercamper befinden sich seit 30, 40 Jahren und länger in denselben Händen. „Wir sehen da schon eine gewisse Überalterung“, sagt Boy Hoff, „aber die Jungen rücken jetzt doch nach.“ Er führe zwar keine Warteliste, aber wenn jemand seinen Dauerstandplatz aufgeben möchte, könne er die Parzelle im Handumdrehen wieder verpachten. Das betreffe vor allem die Standplätze in der ersten Reihe, die in Steinwurfweite zum Wasser hinter einer dichten Buchsbaumhecke liegen.
„Die Speerspitze der Pelzerhaken-Connection“
Die Mannos aus Hamburg sind seit 40 Jahren auf der Parzelle Nummer 495 ansässig. Zwei Wohnwagen hat das Ehepaar verschlissen, der Tabbert Vivaldi ist jetzt der dritte, natürlich auch mit einem stabilen Vorzelt und einer Terrasse. Sie bezeichnen sich selbst scherzhaft als „Speerspitze der Pelzerhaken-Connection“. Zweifellos gehören die Mannos zu den Dauercampern der ersten Stunde und konnten so die gesamte Entwicklung des Platzes – von der grünen Wiese mit spartanisch eingerichteten Toiletten- und Waschhäuschen (als man noch mit der Klorolle in der Hand über den Platz laufen musste) zum latent-luxuriösen Ferienparadies – hautnah miterleben.
„Vieles ist bequemer geworden und auch sehr viel lockerer“, sagt Hans-Werner (72), ehemaliger Zollbeamter, und klopft in aller Ruhe seine Pfeife aus. „Aber weißt du noch, Hans-Werner, wie wir von Boys Onkel Guntram ein paarmal fast die Rote Karte gekriegt hätten, weil wir so heftig gefeiert haben?“, sagt Karin (69). „Ja, der Guntram, der hatte so ein ganz leises Mofa und fuhr damit abends den ganzen Platz ab. Und wenn jemand lauter war, hat er an den Wohnwagen gebollert …“
Boy Hoff kennt alle Geschichten, die über seinen Onkel kursieren. Er lächelt. „Wir führen kein so strenges Regiment mehr, aber auf einem Campingplatz darf nun mal nicht einfach jeder machen, was er will. Ein paar Vorschriften müssen einfach sein, aber die meisten Probleme regeln unsere Gäste sowieso unter sich.“ Bloß volltrunkene Randalinskis seien natürlich immer das absolute No-Go.
Wenn man jahrzehntelang Seite an Seite Wochenenden und ganze Urlaube verbringt, lernt man sich zwangsläufig näher kennen, hoffentlich auch wertschätzen – und man lernt auch, Rücksicht aufeinander zu nehmen. „Das Prinzip ist ganz einfach“, erklärt Hans-Werner, „entweder man mag Camping, oder man mag es nicht. Und wenn man es mag, lebt man in einer Gemeinschaft, aber jeder kann für sich und zu jedem Zeitpunkt selbst entscheiden, ob und wann er seine Ruhe haben möchte. Und das wird akzeptiert.“
So haben sich im Laufe der Zeit nicht nur große Cliquen und langjährige Freundschaften unter den Gleichgesinnten entwickelt. Jetzt kommen übers Wochenende, bei schönem Wetter, auch öfter die Kinder aus der Stadt zu Besuch, bringen häufig schon ihre eigenen Kinder mit, und du begreifst, dass die Lust am Campingleben im Normalfall offenbar weitervererbt wird.
Heute ist so ein generationenübergreifendes Wochenende: Hans-Werners und Karins Tochter Gaby (39) ist angereist und trifft auf ein Dutzend der Campingfreunde aus ihren Kinder- und Jugendtagen. Dazu kommen mittlerweile mehrere Kollegen aus der Immobilienverwaltung, in der sie arbeitet, die sich ebenfalls mit dem Campingvirus infiziert haben. Man schmeißt die Getränke zusammen, jeder gibt ein paar Euro zum Grillgut-Großeinkauf dazu, denn ab 18 Uhr spätestens sollen die Holzkohlebriketts glühen.
Bis dahin kann jeder machen, was er will. Dösen, sitzen, gucken, weitersitzen und gucken, lesen, Fußball spielen oder hinunter an den Strand gehen, den Wohnwagen inspizieren, Reparaturarbeiten in Angriff nehmen. Die Kinder jagen die zahmen Entenfamilien, die den Rasen zuverlässig von Brot- und Chipskrümeln befreien, oder sie beschießen arglose Erwachsene aus blinkenden „Monster-Pistolen“ mit Seifenblasen. Zu keiner Zeit besteht die Gefahr, dass sie überfahren werden, dementsprechend sorglos können Eltern sein. „Man passt aufeinander auf“, sagt Gaby. Es gebe sogar Eltern, die ihren Kindern eine Handynummer mit Eddingstiften auf den Arm schreiben, falls die doch mal verloren gehen.
Du wirst selbstverständlich eingeladen, nachher, zum Grillen, denn eine großzügige Gastfreundschaft ist ebenfalls einer der typischen Wesenszüge des Campers. Marinierter Schweinenacken und Schinkengriller sind immer da, und das Bier darf sowieso niemals ausgehen.
Diesem Trubel aus „der ersten Reihe“ sind die Sawades vor ein paar Jahren entflohen. Wilhelm und Gisela, beide 68, hatten sofort zugegriffen, als ihnen von Boy Hoff eine Parzelle weiter oben angeboten wurde. „Jetzt müssen wir uns nicht mehr die dummen Sprüche der Spaziergänger anhören“, knurrt Wilhelm, „wir lassen uns nun mal nicht gerne auf den Teller gucken. Und die Sicht von hier ist sowieso besser.“ Die Umrandung ihrer Parzelle besteht aus einem duftenden Blumenmeer. Nicht ein Fitzelchen Unkraut durchbricht die farbenprächtige Harmonie.
Seitdem sie in Rente sind, verbringen die Sawades die gesamte Saison auf dem Platz und fahren nur noch zu Familienfeiern heim nach Walsrode, wo sie ebenfalls ein, wenn auch gemauertes Haus mit Garten besitzen. Aber wo es keine Ostsee gibt. Und wenn Ruhe tatsächlich so was wie die erste Bürgerpflicht sein sollte, dann hat Wilhelm sie vermutlich miterfunden. Alles, was mit moderner digitaler Technik zu tun hat, hat der ehemalige Haustechniker bei der Telekom mittlerweile aus seinem Leben verbannt. Die Kehrseite dieser Medaille: „Wenn wir länger hier sind, müssen wir uns manchmal fragen, welcher Wochentag eigentlich ist.“
So weit sind Nicola Sieverling und Martina Puteick noch lange nicht. Die beiden haben sich vor einem Jahr den Wohnwagen von Martinas Bruder gekauft, Parzelle 184, einen heruntergekommenen Lord Luxus, Baujahr 1980, im Grunde ein Wrack, das jedoch eine Toilette mit Anschluss an die Kanalisation besitzt – ein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn es ist nicht jedermanns Sache, sich in den Gemeinschaftstoiletten – vor allem morgens und abends – allen nur erdenklichen Naturlauten auszusetzen.
Während Martina (45) an das Campingleben von klein auf gewohnt ist, hätte sich Nicola (51) dagegen bis vor einem Jahr „niemals träumen lassen, jemals so jeck auf diese Daseinsform zu werden. Aber ich habe mich überzeugen lassen. Es gibt nichts Besseres als Camping, um zu entschleunigen! Gleich nach dem Aufstehen gehe ich mit einer Tasse Kaffee frühmorgens runter an den Strand und gucke einfach bloß aufs Wasser.“
Inzwischen fährt sie beinahe jedes Wochenende nach Neustadt, um mit Martina sukzessive die braun getäfelte deutsche Gemütlichkeit („Die Kissenmuster sind geradezu psychedelisch!“) aus dem Wohnwagen zu eliminieren und dem alten „Lord“ einen frischen, modernen Glanz zu verleihen. Die Farben Hellblau und Weiß dominieren, für die maritimen, frankophilen Accessoires ist Martina, im täglichen Leben Sozialpädagogin, zuständig.
Ein Bier, ein Nackenkotelett – da stört nicht mal der Regen
Nicola, die in Hamburg eine PR- und Coaching-Agentur betreibt, hat darüber hinaus festgestellt, dass das Campingleben beim Menschen Fähigkeiten weckt, die bisher unerkannt in ihm schlummerten: Dass sie zum Beispiel im vergangenen Herbst, als ein Unwetter die Persenning ihres Vorzeltes zerfetzte, in sturmtosender Nacht den Stoff eigenhändig mit Nadel und Faden flickte, hat ihr in der Nachbarschaft nachhaltige Anerkennung beschert. „Dabei kann sie zu Hause ja nicht mal einen Knopf annähen“, sagt Martina trocken und lacht.
Aber jetzt müssen die beiden los, denn Maria Jimenéz-Wittig, Parzelle 152, veranstaltet ihren alljährlichen Sektempfang für die Nachbarschaft – ihr Dank an all jene, die im Laufe einer Saison einmal mit angepackt haben. Und das sind viele. Es gibt Chips, Erdnusslocken und Bockwurst aus der Paellapfanne. Nicola und Martina stellen fest, dass sie den Altersdurchschnitt der Gäste erheblich senken.
Am frühen Abend legt sich eine feinwürzige Dunstglocke über den Platz, ein olfaktorisches Gesamtkunstwerk aus all den herrlichen Düften, die sich beim Barbecue entwickeln. Zwischen den Reihen der Wohnwagen und -mobile steigen zahllose Rauchsäulen empor. Und als du nun der Einladung ins Partyzentrum der „Pelzerhaken-Connection“ folgst und dich in einen Campingstuhl fallen lassen kannst, als man dir ein kühles Bier in die Hand drückt, dir eine saftig gegrillte Nackenkarbonade nebst selbst gemachtem Nudelsalat kredenzt wird und die unvermeidliche Hela-Ketchup-Flasche zu kreisen beginnt, bekommt dein Leben plötzlich wieder einen Sinn. Nicht mal der Landregen macht dir jetzt was aus, der gleichzeitig mit dem Absacker einsetzt. Man rückt nun einfach näher zusammen, und es ist wirklich erstaunlich, wie viele Menschen stehend unter einen Sonnenschirm passen, wenn es regnet.
Mehrere Biere und Sambuca später, etwa gegen Mitternacht, taperst du satt und ziemlich angeschickert durch die stille, regennasse Dunkelheit zurück zu deinem Platz, kriechst dann ein paar Minuten später ächzend in dein Zelt hinein, schälst dich aus deinen engen Klamotten und wünschst dir spätestens in diesem Moment einen Jogginganzug. Dann trägst du mit den vielen Reißverschlüssen deiner wackeligen Behausung sowie deines Schlafsacks erbarmungslose Kämpfe aus, weil sich der dünne Nylonstoff andauernd im Zipper verklemmt. Als du dich nach einer weiteren halben Ewigkeit auf deiner Isomatte endlich in eine einigermaßen bequeme Einschlafposition geruckelt hast, fällt dir ein, dass du vergessen hast, dir die Zähne zu putzen.
Ach was. Viel wichtiger ist es doch, dass dein Zelt dicht ist, so nah wie du jetzt dran bist an der Natur.