Norden. Die einzigartige Kulturpraxis Ostfrieslands könnte bald ein Fall für die Unesco sein. Bewerbung steht bevor

Wenn man nach einem für Ostfriesland typischen Geräusch suchen müsste, könnte man an den Wind denken, der dort so oft über das flache Land rauscht. Vielleicht fällt manchem Urlauber auch Möwengeschrei und das Schwappen der Nordseewellen ein. Ostfriesen selbst hingegen würde einem wohl eher etwas von dem „Knistern“ erzählen. Dem Knistern der Kandisbrocken, der Kluntjes, in einer feinen Porzellantasse, wenn heißer Tee darüber gegossen wird und der geräuschvolle Auflösungsprozess der süßen Brocken beginnt.

Seit Jahrhunderten schon gehört zwischen Jever und Leer, zwischen Emden und Oldenburg das Teetrinken zum Alltag der Familien. Und wer je Ostfriesen außerhalb Ostfrieslands getroffen hat, wenn es sie zum Studium oder Job in andere Städte verschlagen hat, weiß, wie wichtig ihnen gerade dann der Tee und die Zeremonie der Zubereitung ist. „Manche nehmen sogar ihr Wasser von zu Hause mit“, sagt Matthias Stenger, der Leiter des ostfriesischen Teemuseums in Norden.

Und weil die ostfriesische Tee-Zeremonie so speziell und charakteristisch ist, weil sie eine „einzigartige Kulturpraxis“ ist, wie Stenger sagt, könnte sie bald auch von der Unesco zum schützenswerten immateriellen Weltkulturerbe erklärt werden. „Der erste Schritt dazu ist gemacht“, sagt Stenger.

Tatsächlich hat das Land Niedersachsen die ostfriesische Tee-Zeremonie jetzt für diese besondere Anerkennung von landestypischen Bräuchen angemeldet. Im Herbst wird die Kultusministerkonferenz über eine Bewerbung bei der Unesco entscheiden und Tee-Experte Stenger, der den Antrag Niedersachsens mitformuliert hat, ist optimistisch, dass es mit dem Titel für den Tee klappt. Für die Tee-Zeremonie spreche jedenfalls, dass sie wirklich höchst „identifikationsstiftend“ für diese Region und einzigartig sei: „Plattdeutsch wird woanders auch gesprochen, und beim Boßeln gibt es sogar Europameisterschaften.“ Doch echte Meister im Teetrinken sind nur die Ostfriesen. 300 Liter Tee trinkt im Durchschnitt jeder Ostfriese. Das ist fast zwölfmal mehr als der Bundesdurchschnitt und selbst mehr als in England, wo im Schnitt rund 230 Liter pro Kopf und Jahr genossen werden.

„Auch kleine Kinder bekommen hier schon ihren Tee“, sagt Stenger. Schwarzen Tee wohlgemerkt. Ostfriesentee ist immer ein schwarzer, kräftiger Tee, der aus vielen Sorten gemixt wird. Jeder der drei bereits im 19. Jahrhundert gegründeten und immer noch existierenden großen ostfriesischen Tee-Handelsfirmen hat ihre eigene Mischung. „Jede Familie hat da eigene Präferenzen, die weiter vererbt werden“, sagt Tee-Experte Stenger. Pro­bleme gebe es nur nach Hochzeiten.

Warum nun gerade in Ostfriesland das Teetrinken so populär ist und sich auch trotz teilweiser Verbote des „chinesischen Drachengifts“ im 18. Jahrhundert als Kultpraxis erhalten konnte, hat verschiedene Gründe, sagt Stenger. Zum einen gab es früher enge Verbindungen in die nahen Niederlanden, wo 1610 die erste Tee-Ladung gelöscht wurde. Damals war Wasser oft verdreckt und verseucht, sodass die Menschen zunächst leichtes und nahrhaftes Bier als Grundflüssigkeit zum Trinken nahmen. Doch der Alkohol zeigte auch zerstörerische Wirkung; gegen den „Suff-Teufel“ gingen gerade die Prediger der Reformation vor. Tee bot sich als Alternative an. Das Wasser war abgekocht, die Teeblätter lieferten Geschmack. Und die traditionelle ostfriesischen Art, ihn mit Milch und Kandis zu trinken, machte ihn für die hart arbeitende Bevölkerung auch nahrhaft. Hinzu kam die Abgeschiedenheit Ostfrieslands, das von drei Seiten vom Wasser umgeben ist und im Süden durch eine Moor- und Sumpflandschaft getrennt ist vom Rest des Landes, wo sich eine Tradition eben lange halten kann. „Der Tee gehört hier zum Leben dazu wie das Watt und der Deich“, sagt Stenger.

Das Ostfriesische Teemuseum in Norden (Am Markt 36) ist täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Dienstags, mittwochs und sonnabends können Besucher hier eine typische Tee-Zeremonie mit allen Sinnen erfahren. Empfohlen wird eine Voranmeldung unter Tel. 04931/121 00.