In Halstenbek wird Glück an einer Grundschule als Fach unterrichtet. Das ist kein Scherz – gelacht wird dennoch viel.
Von einem guten Kompliment könne er zwei Monate lang leben, sagte der Schriftsteller Mark Twain mal. Wenn es allen so ginge, dann machten sich die Schüler der Klasse 3c der Grundschule Bickbargen in Halstenbek gerade unsterblich, denn sie vergeben untereinander haufenweise Komplimente: „Du bist eine tolle Freundin“, „Mit dir kann ich über alles reden“, „Du bist super im Rechnen“, „Keiner läuft so schnell wie du“, „Dir kann ich jedes Geheimnis erzählen“ oder „Du hast dich schön angezogen.“
Die 24 Kinder haben jedes Lob an einen Mitschüler auf gelbe Zettel geschrieben. Massenhaft positives Feedback wandert in Papierform durch den Raum, jedes empfangene Briefchen sorgt für ein breites Grinsen. „Und für ein warmes Gefühl im Bauch, das kribbelt schön“, sagt Julia. Manche Kinder haben so viel positives Feedback gar nicht erwartet, sie scheinen in wenigen Minuten um zwei Zentimeter zu wachsen. Alle sind der Meinung, dass es wunderbar sei, wenn einem jemand etwas Liebes sagt, aber es falle einem selbst irgendwie schwer.
„Wir vergeben nicht häufig Komplimente und müssen es daher üben,“ erklärt Sabine Stute-Meißner, die Klassenlehrerin. „Mir ist das peinlich,“ sagt ein Junge und bekommt daraufhin einen Trick von seinem Sitznachbarn verraten: Er hat die Zettel mit den Nettigkeiten an seine Mitschüler einfach in deren Tornister oder in die Kapuzen gesteckt. Heimlich aber ehrlich – und gar nicht mehr peinlich.
Selbst- und Fremdwahrnehmung sind die Themen in dieser Schulstunde „Glück“, ein Fach, von dem Sabine Stute-Meißner überzeugt ist: „Wir Lehrer sind es gewohnt, auf Defizite zu schauen, im Schulfach Glück ist es andersherum. Da werden den Kindern ihre Stärken aufgezeigt.“ Hier darf Schule mehr als eine Anstalt für Qualifikationen sein, hier wird die Zuversicht der jungen Leute aufgebaut, ihre Lebenskompetenz geschult. Die 59-jährige Pädagogin sieht viele Vorteile in dem ungewöhnlichen Lehrkonzept: „Der soziale Umgang verbessert sich, jedes Kind schafft sich eine Widerstandsfähigkeit gegen Krisen, und die persönliche Lernleistung steigt.“
Das Gegenteil von Mobbing: Mehr Klassengemeinschaft, mehr Empathie
Denn wer glücklich ist, der lernt leichter. Das sagt kein Kalenderspruch, das sagen Neurowissenschaftler. Traurige oder schlecht gelaunte Kinder sind gebremst in ihrer Aufnahmefähigkeit, also gilt es, ihr Wohlbefinden zu steigern. In einer Schule, die Angst und Stress bereitet, fällt das schwer. Eine Studie, nach der Schule in der Beliebtheitsskala von Kindern ziemlich weit unten rangierte (unbeliebter waren nur Zahnarztbesuche), war der Auslöser für Oberstudiendirektor Ernst Fritz-Schubert, sich das Fach Glück auszudenken. Er beschloss, „wieder Bildung im ursprünglichen Sinn“ zu vermitteln, und dazu gehört nach Meinung des Pädagogen „unbedingt die Fähigkeit, Glück empfinden zu können“. 2007 führt Fritz-Schubert das Schulfach an seiner Schule in Heidelberg ein, inzwischen ist er pensioniert, seine Idee jedoch expandierte.
„Glück“ wird an mehr als 100 Schulen im deutschsprachigen Raum angeboten. Es umfasst 40 Doppelstunden, die über ein Jahr verteilt entweder als eigenes Fach, im Rahmen der Klassenlehrerstunden, als Projektkurs oder als Teil des Philosophieunterrichts unterrichtet werden. Noten gibt es keine. Wer ein „Mangelhaft“ hinter „Glück“ liest, könnte demotiviert werden für den Rest seines Lebens. Oder viel Geld sparen, weil er von vornherein aufs Lottospiel verzichten kann – aber Scherz beiseite: In den Stunden wird viel gelacht, es geht fast kuschelig zu. Aber das klingt zu sehr nach Ponyhof, als brächte die Stunde nichts, dabei scheint sie das doch zu tun. Die Schüler erkennen, was sie können, das sorgt für Stabilität und für ein gutes Miteinander. Ein Stärkenausweis in der Tasche hilft ihnen, sich ihre Talente immer wieder vor Augen zu führen („Ich kann schnell rechnen, ich habe Fantasie...“).
„Wichtig ist auch, dass sich die Kinder darüber klar werden, was sie überhaupt glücklich macht“, sagt Miriam Marx. Die Lehrerin unterrichtet „Glück“ in Halstenbek bei Schülern aus der zweiten Klasse. Auf ihre Frage nach glücklichen Momenten antwortet niemand: „Wenn ich Computer spiele“ oder „ein hohes Taschengeld bekomme“. Stattdessen gefallen den Kindern gemeinsame Erlebnisse am besten: „Wenn ich mit Mama einen Ausflug zum Bauernhof mache“, „Wenn wir am Wochenende Oma besuchen“, „Wenn meine Freundin bei mir übernachtet“ oder „Wenn Papa mir zeigt, wie man einen Schneemann baut“.
Sich in einer Gemeinschaft wohlzufühlen, anderen zu vertrauen und achtsam durch die Welt zu gehen, das sind die Ziele des Programms. Meist werden praktische Übungen gemacht, die anschließend ins reale Leben übertragen werden. Eine Hinführung zur Empathie gelingt beispielsweise mit dem Emo-Memory, eine der Lieblingsübungen von Frau Stute-Meißner: Zwei Kinder gehen kurz vor die Tür, die Übrigen kommen paarweise zusammen. Jedes Paar sucht sich dann aus Bildern eine Emotion (zum Beispiel Freude oder Wut) und stellt sie als Statue dar, beide in der gleichen Haltung. Die Kinder sind quasi wie die „Karten“ im Memory. „Jetzt alle durcheinanderlaufen“, ruft Frau Stute-Meißner und sagt nach einem ordentlichen Hin-und-Her-Gerenne schließlich „Stopp!“ Alle bleiben normal stehen. Die beiden Kinder kommen herein und „decken“ nacheinander die „Karten“ durch Antippen der Kinder auf. „Du bist Angst!“ „Nein, Trauer …“ Okay, also weiter nach der passenden Statue suchen.
Das Spiel geht so lange, bis alle Emotions-Paare zusammengeführt werden. Am Ende glühen die Wangen der Kinder, „das hat viel Spaß gemacht“, sagt ein Junge. Glück als Gemütszustand stellt also eher das Ergebnis als den Inhalt des Unterrichts dar.
Ein Hamburger Psychologe verbreitet das Fach Glück in ganz Deutschland
Die Frage ist doch sowieso: Kann man Glück überhaupt lernen? Ist sein Charakter nicht ein flüchtiger, der sich nie festhalten lässt? Über die Kunst des Glücklichseins haben sich Philosophen aller Generationen und Länder bereits die Köpfe zerbrochen. Die Buchladenregale quellen über vor Ratgebern. „Noch mehr Lesen bringt nichts, wir wissen doch schon alles, es fehlt nur an der Umsetzung, am Training“, sagt Dominik Dallwitz-Wegner. Der 47-jährige Diplom-Psychologe leitet die Weiterbildungen zum Schulfach Glück. 180 Lehrkräfte, Erzieher und pädagogische Fachkräfte hat der Hamburger in ganz Deutschland bereits geschult, und wenn es nach ihm ginge, dann sollten es noch viel mehr werden: „Denn dann würden die Schüler wieder lieber zur Schule gehen. Fast 40 Prozent von ihnen haben Angst.“
Dallwitz-Wegner coacht auch Erwachsene auf dem Weg zu mehr Optimismus, doch besser sei es, damit schon in jungen Jahren zu beginnen, weil es sich dann schneller in die Persönlichkeit integrieren lasse. Es gilt der (leicht abgewandelte) Spruch: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans langsamer. Dallwitz-Wegner möchte, dass die Schulkultur den Spaß am Lernen wieder wichtiger nimmt: „Fachwissensvermittlung kann nicht das einzige Ziel von Bildung sein.“
Natürlich werden auch im Glücks-Unterricht keine Geheimrezepte für eine ewig währende Lebenszufriedenheit verraten. Es geht um die Vermittlung von Ansätzen, eigenständiger und nachhaltig zufriedener zu leben. Versprochen werden keine permanenten Hochgefühle und kein märchenhaftes „... und sie lebten glücklich bis ans Ende aller Tage“, aber es ist für ein Kind schon hilfreich, wenn es das Gefühl bekommt, Probleme aus eigener Kraft bewältigen zu können und sich Ziele setzt, die es erreichen möchte.
Der Gong läutet. Die Glückstunde in der Grundschule Bickbargen ist vorbei. Die Schüler verlassen das Klassenzimmer, Sabine Stute-Meißner packt ihre Sachen zusammen. Dazwischen findet sie einen gelben Zettel: „Du kannst einem gut was beibringen.“