Kiel/Hannover. Nur noch 2,14 Millionen Mitglieder. Immer mehr Menschen kehren der Kirche den Rücken: ein „Massenphänomen“.
Neue Hiobsbotschaften für Gottes Bodenpersonal: Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche in Norddeutschland zählte Ende 2014 nur noch 2,14 Millionen Mitglieder – rund 47.500 weniger als im Vorjahr. Damit war der Mitgliederverlust in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern im vergangenen Jahr um 10.000 Menschen höher als im Jahr 2013, berichtet jetzt der Evangelische Pressedienst (epd) mit Hinweis auf die amtliche Statistik. 2012 hatte die Nordkirche noch 2,23 Millionen Mitglieder.
Wie der Sprecher der Nordkirche, Stefan Döbler, dem Abendblatt sagte, werden detaillierte Angaben über die Zahl der Ein- und Austritte 2014 frühestens Anfang Juli vorliegen. Es sei aber schon jetzt zu befürchten, dass die Differenz zwischen Ein- und Austritten „deutlich höher ausfallen wird als in den vorherigen Jahren“.
Als Grund für den stärkeren Mitgliederschwund in der Nordkirche vermuten Experten die veränderte Erhebung der Kirchensteuer auf Kapitalerträge unter Beteiligung der Banken. Einige Informationsschreiben von Banken und Sparkassen sowie Formulierungen auf Kontoauszügen hätten für Irritationen bei den Kunden gesorgt, sagte Döbler. „Auswirkungen auf die Zahl der Austritte sind zu befürchten.“
Auch der demografische Wandel spielt nach Angaben des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD mit Sitz in Hannover eine Rolle: Es sterben deutlich mehr Kirchenmitglieder als Kinder oder Erwachsene getauft werden.
Der protestantisch geprägte Norden Deutschlands erlebt derzeit den wohl gravierendsten Abwärtstrend seit 20 Jahren. Während das katholische Erzbistum Hamburg durch die Zuwanderung aus Ost- und Südeuropa ein leichtes Plus verzeichnet, sind die Austrittszahlen in der Bremischen Kirche, in der Nordkirche und in der Kirche Berlin/Brandenburg/Schlesische Oberlausitz bundesweit am höchsten: Laut Statistik von 2013 sind 1,1 Prozent der Mitglieder aus der Nordkirche und in Bremen sowie 1,2 Prozent aus der Kirche in der Region Berlin/Brandenburg/Schlesische Oberlausitz ausgetreten. Bundesweit gehören noch 29 Prozent der Bürger einer evangelischen Kirche – das sind 23 Millionen Protestanten. 30,2 Prozent der Bundesbürger sind katholisch.
Die EKD-Mitgliederstatistik zeige, dass Kirchenaustritte zum „Massenphänomen“ geworden seien, schreibt jetzt die evangelische Nachrichtenagentur idea. „Kexit“, neudeutsch für Kirchenaustritt, sei für viele Menschen heute wieder eine Option, meint idea mit Hinweis auf den „Grexit“, Griechenlands potenziellem Austritt aus dem Euro.
Dazu kommt ein gering ausgeprägtes Interesse der norddeutschen Protestanten, am kirchlichen Leben teilzunehmen. Wie ebenfalls aus einer EKD-Statistik hervorgeht, besuchen durchschnittlich nur noch 2,4 Prozent der Nordkirchen-Christen einen Gottesdienst. Zum Vergleich: In Sachsen sind es 6,5 Prozent und in Baden-Württemberg liegt der Anteil immerhin noch bei 5,2 Prozent. Eine Ausnahme gibt es nur zu Weihnachten, wenn rund 30 Prozent der Protestanten in die Kirche gehen.
Zudem dämpfen die neuen statistischen Zahlen die Erwartung, dass Kircheneintritte die Wende bringen könnten: Sie sind EKD-weit um 2,5 Prozent zurückgegangen.
Wie Hannovers Stadtsuperintendent Hans-Martin Heinemann sagte, habe die veränderte Erhebung der Kirchensteuer auf Kapitalerträge auch in der niedersächsischen Landeshauptstadt verstärkt zu Austritten geführt. 2014 seien es gut 4000 gewesen. „Über Jahrhunderte war es selbstverständlich gewesen, Kirchenmitglied zu sein. Das ist jetzt ins Rutschen geraten“, sagte der Geistliche.
Vor allem Ältere hätten aus Furcht, einen Teil ihrer Ersparnisse einzubüßen, im vergangenen Jahr den Kirchenaustritt erklärt. Um nicht noch mehr Mitglieder zu verlieren, geht die hannoversche Landeskirche mit ihren derzeit 2,8 Millionen Mitgliedern in die Offensive. Zum Reformationstag am 31. Oktober sollen alle einen persönlichen Brief von Landesbischof Ralf Meister erhalten. Die Kirche müsse die Mitglieder in ihrer Kirchenzugehörigkeit bestärken, sagte der Landesbischof. Hamburgs und Lübecks Bischöfin Kirsten Fehrs hatte unlängst im Abendblatt-Gespräch erklärt: „Die Kirchenaustritte machen mir tatsächlich Sorgen.“ Organisationen wie Kirche, Parteien und Vereine hätten aber grundsätzlich gegenwärtig das Problem, Menschen dauerhaft institutionell zu binden.
Der neue EKD-Ratsvorsitzende, Professor Heinrich Bedford-Strohm, beobachtet freilich auch eine positive Entwicklung: „Unter den Kirchenmitgliedern steigt der Anteil derer, die sich keinen Austritt vorstellen können.“