Der Kriminologe Christian Pfeiffer zieht Bilanz – und fordert das Aus für Hauptschule. Was ihn überdies fast mehr bekümmert als die Kriminalität, ist die falsche Wahrnehmung der Realität.
Hannover. Mehr als 29 Jahre lang hat er regelmäßig den Angstpuls der Bundesbürger gefühlt, so lange ist Professor Christian Pfeiffer schon Chef des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) in Hannover. Was ihn wenige Monate vor seinem Ausscheiden aus diesem Amt mit dann 71 Jahren fast mehr bekümmert als die Kriminalität, ist die falsche Wahrnehmung der Realität. Im Gespräch mit dem Abendblatt nennt er vor allem einen Grund für übertriebene Ängste: „Die Deutschen sind wie andere Nationen ein Opfer des auf Kriminalgeschichten fixierten Fernsehens, die gefühlte Kriminalitätstemperatur hat mit der Realität nichts gemein.“
Deutschland war, so Pfeiffers Botschaft, nie friedlicher als derzeit. Ob Mord, Totschlag, Kindstötung oder Kindesmisshandlung, beinahe alle Fallzahlen sind seit vielen Jahren kontinuierlich rückläufig: „Aber nicht einmal fünf Prozent der von uns Befragten ahnten, dass wir seit dem Jahr 2000 einen Rückgang der vorsätzlichen Tötungsdelikte um 44 Prozent verzeichnen, und beinahe niemand schätzt richtig ein, dass der Sexualmord seit Mitte der 80er-Jahre von 50 auf zwei Fälle zurückgegangen ist.“ Und in den vergangenen 20 Jahren habe sich Gewalt gegen Kinder und Kindesmissbrauch halbiert. Lediglich bei „importierten Straftaten“ etwa im Internet oder Wohnungseinbrüchen steigen die Zahlen noch.
„Wir sind auf einem wunderbaren Kurs“, sagt Pfeiffer vor allem mit Blick auf die Statistiken über Gewalt in den Familien. Binnen 20 Jahren sank die Zahl der Kindstötungen von 176 auf 68Fälle. Selbst wenn man die geringere Zahl der Kinder einrechnet, ist das ein Rückgang von mehr als 50 Prozent.
Pfeiffer hat sich für das im Jahr 2000 in Deutschland gesetzlich verankerte Züchtigungsverbot für Eltern immer eingesetzt, aber im Rückblick sagt er: „Dafür hätte ich mich noch stärker engagieren müssen.“ Der Grund für solche Selbstkritik: Der Rückgang der Gewalt gegen Kinder ist längst zum Trend für die Gesamtgesellschaft geworden.
Schon vor mehr als zehn Jahren postulierte Pfeiffer: „Wer geschlagen wird, schlägt später selbst.“ Heute formuliert er angesichts der positiven Entwicklung umgekehrt: „Der Trend ist eindeutig, mehr Liebe statt Hiebe, das ist die Quelle der positiven Entwicklung.“ In Zahlen: 41 Prozent weniger Jugendgewalt seit 2007, Jugendalkoholismus ist binnen zehn Jahren um mehr als 50Prozent zurückgegangen, und die Zahl der Suizide junger Menschen ging um ein Drittel zurück. Dies ist für ihn ein Beweis für eine Gesellschaft, die immer weniger schlägt: „Das muss so sein, weil das Gros der Selbstmörder zuvor Opfer von Gewalt und Mangel an Liebe war.“ Und was auch hilft aus seiner Sicht: Der Anteil der Schulabbrecher hat sich halbiert und damit auch die Zahl der Jugendlichen, die keine Perspektive haben.
Aber genauso eindeutig ist auch Pfeiffers Position zur niedersächsischen rot-grünen Landesregierung, die die Hauptschulen nicht abschafft, obwohl inzwischen weniger als sechs Prozent der Kinder nach der Grundschule auf die Hauptschule wechseln: „Die Hauptschule ist eine Restschule, eine Zusammenballung von meist männlichen Verlierern.“ Dies sei auch eine „völlig inakzeptable Benachteiligung der Migrantenkinder“.
Der extreme Rückgang der Jugendgewalt von türkischstämmigen jungen Menschen in Hannover hänge eindeutig damit zusammen, dass in der Landeshauptstadt der Anteil der Haupt- und Sonderschüler aus dieser Gruppe von 50 auf 15 Prozent gesunken ist. Und die Argumentation der Landesregierung, die Schließung von Hauptschulen liege in der Verantwortung der kommunalen Schulträger, teilt Pfeiffer nicht: „Die Abschaffung der Hauptschule ist eine politische Entscheidung, hier muss das Land Akzente setzen.“ Und dann ist da noch eine Folgerung: „Die männlichen Verlierer unseres Schulsystems sind besonders in Gefahr, den Versprechungen von Extremisten zu erliegen, wir erzeugen mit Fehlern in der Bildungspolitik den Nachwuchs für aggressive Salafisten und IS.“
Pfeiffer ist gerne und regelmäßig angeeckt, zuletzt deshalb, weil er sich von der Katholischen Bischofskonferenz keinen Maulkorb verpassen lassen wollte bei der Aufarbeitung von Missbrauch durch Geistliche. Und jetzt zieht es ihn in die USA, Mitte Januar hat die fünfmonatige Gastprofessur begonnen, und da dürften Welten aufeinanderprallen. Hier der „Professor aus Germany“, der von strammer Erziehung und Schlägen nichts hält, und dort eine Gesellschaft, die laut Pfeiffer noch auf Repression setzt: „Ich habe nur ein Ziel, zusammen mit Kollegen und Freunden eine Kampagne zu starten zur Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts.“ Und in 19 US-Bundesstaaten dürfen auch die Lehrer noch schlagen.
Vorreiter bei der Abschaffung jeder körperlichen Züchtigung waren, so Pfeiffer, die skandinavischen Staaten. Sie seien damit Spitzenreiter bei den beiden wichtigsten Bürgertugenden Toleranz und zwischenmenschliches Vertrauen. Dies wiederum sei die wichtigste Voraussetzung für inneren Frieden: „Die USA dagegen sind krank, haben große Rassismusprobleme sowie Misstrauens- und Angstprobleme. Und auch die jetzt bekannt gewordenen Folterexzesse sind kein Zufall.“ Und wieder argumentiert er mit Zahlen: Das Risiko, an einer Schusswaffenverletzung zu sterben, liege 14-mal so hoch wie in Deutschland, das Risiko, im Gefängnis zu landen, sei zehnmal so hoch.