Warum in die Ferne schweifen: Mit kleinem Boot und wenig Geld die Ostsee umrunden – das liegt im Trend bei vielen jungen Seglern.
Kiel/Hamburg. Noch beobachtet er das Leben in seiner Stadt eher wie ein Besucher; „irgendwie von außen“, sagt Jan-Ole Jepsen. Noch fühlt er sich nicht als Teil davon, registriert interessiert wie ein Ethnologe, wie sich hier auf der Straße Autofahrer hinter geschlossenen Scheiben anschreien, wie Menschen stumm und dicht an dicht in der S-Bahn sitzen.
Auch Tage nach seiner Rückkehr ist der 35-Jährige „tiefenentspannt“, wie er sagt. Heute sowieso: Mit der Fähre ist er hinübergekommen in den kleinen, abgelegenen Hafen am Köhlfleet auf Hamburg-Waltershof. Hier liegt jetzt sein Boot, die „Faein“: Ein klassischer, kleiner Langkieler, vom Typ „Folkeboot“, der schon in den 1940er-Jahren für die Ostsee entworfen wurde. Stehhöhe hat er dort nicht, zwei Pritschen sind Sofa und Bett zugleich, warmes Essen brutzelt er auf einem Spirituskocher, die Toilette ist ein stabiler Eimer.
„Das Wohnzimmer ist hier draußen“, sagt er und lädt zur Besichtigung in die offene Plicht ein. Das Boot schwankt, wenn man es betritt. 171 Tage, von April bis Oktober, war es tatsächlich so etwas wie das Zuhause des Hamburger Architekten. Eine Auszeit wollte er sich gönnen, nicht warten bis zur Rente, um das Abenteuer Freiheit zu erleben. Mit kleinem Boot und kleinem Budget. Nicht um die Welt, aber einmal rund um die Ostsee segelte er.
Weiter als beim jährlichen Sommertörn, wenn man nach zwei Wochen wieder umdrehen muss. Ein Traum, den viele norddeutschen Segler wohl haben, wenn sie sich hinter den Horizont wünschen: Dorthin, wo die Schären liegen, das unbekannte Baltikum oder der nördlichste Punkt der Ostsee, die doch eigentlich das Meer vor der Haustür ist.
Im Dezember keimte bei Jepsen erst die Idee auf. Fünf Jahre war er da schon im Job. Der gelernte Möbeltischler hatte sich nach dem Architekturstudium vor allem auf Entwurfsarbeiten spezialisiert. Doch nun schien die Zeit reif, um neue Erfahrungen in einem anderen Büro zu sammeln. Damit ergab sich aber auch die Möglichkeit für eine kleine Auszeit. „Wann, wenn nicht jetzt, wozu warten, man weiß nie, was im Leben kommt“, sagt er.
Inspiriert hatten ihn andere, auch eher jüngere deutsche Segler, die in jüngster Zeit ebenfalls mit kleinen Booten das große Ostsee-Abenteuer gewagt hatten und damit einen neuen Trend setzen. Sönke Roever („Auszeit unter Segeln“), Merle Ibach („Ostseeprinzessin“), Bastian Hauck („Raus ins Blaue“) und Christian Irrgang („Ostsee linksherum“) etwa, die alle erfolgreich Bücher darüber geschrieben haben.
Oder der Hamburger Werbefilmer Stephan Boden, der mit einer nur 5,75 Meter langen Varianta 18 samt Bordhund und Freundin wochenlang durch die Ostsee streifte. „Kleiner segeln, größer Leben“, lautet sein Motto, das er ebenfalls in einem gerade erschienen Buch („Digger“) beschrieben hat. Bei allen geht es auch um ein „Downsizing“ des Lebens, um mit weniger mehr erleben zu können. Erfüllung im Einfachen, statt der Hatz nach immer größer und neuer. Eine Lebenseinstellung, die man beim Wandersegeln gut ausprobieren kann. So wie Jan-Ole Jepsen eben.
Das 1977 gebaute Boot restaurierte er eigenhändig, verkaufte alles, „was man so lange durch die Umzüge geschleift hat“, wie er sagt. Das Fotostativ, die Motorradklamotten ... Er zog in die Wohnung seiner Oma und kalkulierte mit rund 800 Euro Kosten im Monat, inklusive Versicherungen zu Hause, Sprit für den Außenborder und das Bierchen am Abend. Wenn möglich ankerte er, um das Hafengeld zu sparen. Oft begleiteten ihn Freunde, oft war er aber auch völlig allein und sendete per Satellitenantenne Botschaften auf seine Homepage.
Von der Flensburger Förde segelte er nach Fehmarn, weiter nach Polen, in die baltischen Staaten. 30 Stunden am Stück – das war der längste Schlag, den er allein wach bleiben musste. Angst? „Nein, oft aber Respekt vor der See“, sagt er. Vor allem vor Finnland, wo ein Südwestwind lange ungehinderten Anlauf nehmen kann, um große Wellen aufzutürmen. „Aber das Folkeboot ist für die Ostsee gemacht, da fühlt man sich sicher.“
Bis in die Schärenwelt von Schweden und Finnland reichte die Tour, schließlich bis an den nördlichsten Punkt und wieder zurück bis zum Götakanal durch Schweden und weiter wieder Richtung dänische Südsee – dem Heimatrevier vieler Hamburger. „Das alles liegt fast vor der Haustür und ist doch Abenteuer“, sagt er. Und wo war es am schönsten? Jepsen zuckt mit den Schultern. Ja, die Schären, Tausende Inseln – dort zu segeln sei schon fantastisch. „Aber eigentlich“, sagt Jepsen, „war es immer schön, die ganze Reise eben.“
Rund 3500 Seemeilen, etwa 6482 Kilometer waren es am Ende. Rund 4800 Euro haben die sechs Monate gekostet – so viel wie ein zweiwöchige Kreuzfahrt auf einem Luxusschiff. Einfacher, aber länger. Sparsamer, aber intensiver. Eine Reise zu sich selbst? Nö, sagt Jepsen, eine „Sinnreise“ sollte es nicht werden. „Aber es war schon gut, um mir klarzuwerden, was ich will mit der Zeit, die ich habe.“
Die eine Erkenntnis hat er mit seiner Tour im kleinen Boot bereits für sich bewiesen: Weniger kann tatsächlich mehr Lebensqualität sein. Und: Freiheit ist ebenfalls ein wichtiges Ziel, sagt Jepsen. Die Suche nach einem neuen Job in einem anderem Büro, wie ursprünglich geplant, hat er daher vom Lebensplan wieder gestrichen. Jetzt will er als Architekt mit einem Freund die Selbstständigkeit wagen. „Ein neues Abenteuer“, sagt er. Zur Entspannung hat er dann noch sein kleines Boot. Ein größeres, das weiß er jetzt, braucht er nicht.