Mitten in Wilhelmsburg gibt es das noch: Historische Denkmäler, in denen der Müller noch selbst das Getreide mahlt und Mehl in Säcken herausträgt.

Wilhelmsburg. Der Roggen kommt in festen Jutesäcken. Fünf Zentner waren es an diesem Morgen. "Das ist immer eine ordentliche Schlepperei", sagt Gerhard Wendt und wischt sich über das Gesicht. Der 74-Jährige steht auf dem Mahlboden, gerade hat er einen neuen Sack auf die Mühle geschüttet, 25 Kilogramm. Jetzt kontrolliert er, ob das Getreide gleichmäßig aus dem Rüttler zwischen die beiden Mühlsteine fällt. Wendt nickt, alles ok. Auch der Sound stimmt, das Mahlwerk läuft wie am Schnürchen. "Wenn alles funktioniert, ist es einfach." Zwanzig Meter über ihm drehen sich die großen Flügel der Windmühle Johanna - mitten in Wilhelmsburg und zwischen lauter schmucken Einfamilienhäusern.

Allein das ist etwas Besonderes. Denn es klappert schon lange nicht mehr am rauschenden Bach. Mühlen, gar Windmühlen, aus denen der Müller das Mehl noch in Säcken herausträgt, gibt es nur noch wenige im Land. Und schon gar nicht in großen Städten. Mehl misst sich heute in Hunderttausenden Jahrestonnen und kommt aus großen Industrieanlagen. Solchen wie die Aurora Mühle an der Trettaustraße, drei Kilometer Luftlinie entfernt. Der Hamburger Produktionsstandort der Kampffmeyer Milling Group hat mit der Windmühle aus dem Jahr 1875 kaum noch etwas gemein. Trotzdem gibt es Verbindungen zwischen den ungleichen Wilhelmsburger Schwestern.

"Wir kooperieren", sagt Geschäftsführer Peter Warnke. Die Aurora Mühle liefert das Getreide und unterstützt bei allen Müllereifragen. Im Gegenzug besuchen die Lehrlinge die Windmühle, für eine Art Zeitreise in die traditionsreiche Vergangenheit ihres Handwerks.

"Bei gut Wind schaffen wir 250 Kilogramm Mehl am Vormittag", sagt Wendt und schaut in das schwere Gebälk. Wie jeder ordentliche Müller trägt er Weiß, auf dem Kopf hat er eine helle Schirmmütze. Dabei war sein ganzes Leben lang Grün seine Farbe. Wendt war bis zur Rente Gärtner. Aber inzwischen hat sich der 2. Vorsitzende des Wilhelmsburger Mühlenvereins ganz dem zweistöckigen Galerie-Holländer verschrieben. "Als wir ihn vor 20 Jahren übernommen haben, war die Mühle nur noch eine leere Hülle", erzählt er. "Nach und nach hat der Verein sie wieder instand gesetzt." Seit 1998 wird an dem jahrhundertealten Mühlenstandort wieder Mehl gemahlen.

Davor lag eine einzigartige Rettungsaktion. Bis 1960 hatten die letzten Müller, das Ehepaar Erwin und - die spätere Namensgeberin - Johanna Sievers, noch Mehl nach alter Tradition gemahlen. Weil sich kein Nachfolger für den Betrieb fand, verkauften sie die Windmühle an die Stadt Hamburg. Zunächst wurden dort noch Gerstenhülsen und Haferspelze gemahlen, aber schnell war die ursprüngliche Mahlvorrichtung durch Um- und Ausbauten nicht mehr funktionsfähig.

Danach lagerte dort ein Unternehmer seine Tiefkühlprodukte, die Mühle war Büro und Abstellraum. In den 80er-Jahren residierte eine Pelzhandlung darin. 1988 bekam die Johanna, wie sie die Wilhelmsburger nennen, noch einmal neue Flügel. Ein Beratungsunternehmen zog ein, 1992 übernahm der Mühlenverein das Denkmal. Und die Rundumerneuerung begann. "Insgesamt hat der Verein 500.000 Euro investiert", sagt der Vorsitzende Carsten Schmidt stolz. Auch zwei der vier ursprünglichen Mahlwerke sind restauriert. Eines ist sogar mit einem Motor ausgestattet.

An Tagen wie diesem ist das die einzige Chance, Mehl fürs tägliche Brot zu mahlen. "Der Wind ist zu böig", sagt Gerhard Wendt knapp. Inzwischen ist die Mühle schon eine gute Stunde in Gang. Es rattert und vibriert auf allen fünf Böden. Feiner weißer Staub wirbelt durch die Luft. Gerade hat der Wilhelmsburger noch mal den Lauf der Mühlsteine geprüft. Meistens sind sie zu dritt an Mahltagen, aber einer der drei ist ausgefallen. Deshalb ist Wendt über die schmale Holzstiege auch schon wieder auf dem Weg zum Absackboden darunter. Durch ein Rohr fällt das Mehl in einen weißen Papiersack. Wendt fasst prüfend hinein. "Es darf nicht zu grob sein", sagt er. "Dann verbäckt es sich nicht ordentlich. Das hinzubekommen ist die Kunst des Müllers."

Im dritten Stock der Aurora Mühle wird Rainer Witte später an diesem Tag fast wortgenau das Gleiche sagen. Der Mann ist Obermüller und so etwas wie der Herr des Mehlmahlens. 27 Walzenstühle rattern ohrenbetäubend laut um ihn herum, sozusagen die moderne Version der Mühlsteine. 100 Tonnen Roggen und 480 Tonnen Weizen werden hier jeden Tag gemahlen, im 24-Stunden-Betrieb, 340 Tage im Jahr. Dafür hat Witte 14 Mitarbeiter, gerade mal acht sind gelernte Müller. Etwa die Hälfte der Produktion liefert die Mühle an große Bäckereiunternehmen. Ein Drittel wird kilogrammweise - etwa mit dem berühmten Sonnenstern als Aurora-Mehl - verkauft. Der Rest geht an Handwerksbäckereien. "Aber der Bereich sinkt, weil es immer weniger traditionelle Bäcker gibt", sagt Witte. Sogar Müllerlehrlinge gibt es nicht mehr, zumindest im Wortsinn. Sie heißen jetzt Verfahrenstechnologen für Mühlen- und Futtermittelwirtschaft.

Aha. Das klingt ziemlich abstrakt. Vielleicht ist deshalb das Interesse an den alten Mühlen wieder erwacht. Der Wilhelmsburger Mühlenverein hat knapp 500 Mitglieder in ganz Hamburg - und noch mehr Fans. Jeden ersten Sonntag in Monat ist das Mühlencafé geöffnet, es gibt auch Führungen und Angebote für Kinder. Höhepunkt ist in jedem Jahr der Deutsche Mühlentag am Pfingstmontag (siehe Info). Aber auch sonst tut sich was. "Die Mühle soll zu einem Erlebnismühlenmuseum erweitert werden", sagt Vereinschef Schmidt.

Auf der Warft direkt nebenan steht ein neues Backhaus, das als kleinstes IBA-Projekt im März feierlich eröffnet wurde. Sobald der große Lehmbackofen komplett fertig ist, wird dort auch das Mühlenbrot, das im Moment noch von der Marmstorfer Bäckerei Becker geliefert wird, gebacken. Möglicherweise soll es bald sogar noch ein weiteres Brot geben. "Ein dunkleres Roggenschrotbrot", sagt Gerhardt Wendt.

Auch dieses Mehl kommt dann, Ehrensache, frisch aus der Wilhelmsburger Mühle. Im Moment stellen sich die Müller darauf ein, dass sie künftig mehr mahlen müssen. Johanna schafft das, da ist Gerhard Wendt sich sicher. "Diese Mühle hat eine Seele", sagt er.