Der Kirchenkreis Dithmarschen will den Bau an der Elbmündung verkaufen. Kiel hofft auf Geld für Gedenkstätte vom Bund. Hitler legte 1935 Grundstein.
Friedrichskoog. Schafe stehen am Deich, auch Pferde sind zu sehen, aber Menschen? Nein, die sind Mangelware an diesem grauen Vormittag im Dieksanderkoog an der Elbmündung. Selten fahren Autos vorbei, manches verlangsamt die Fahrt. Der Reporter hat das Gefühl, aus dem Wageninneren heraus aufmerksam beobachtet zu werden. Was macht der da vor der Neulandhalle, vor dem Nazi-Trutzbau, für den Adolf Hitler 1935 den Grundstein legte?
An jenem 29. August 1935 war der Bauplatz voll mit Menschen. Hakenkreuzfahnen flatterten im Wind. Hitler hatte eine stundenlange Triumphfahrt quer durch Schleswig-Holstein hinter sich. Überall wurde ihm zugejubelt. Nachmittags erreichte er den soeben eingedeichten Koog und gab ihm seinen Namen: Adolf-Hitler-Koog. 92 sorgsam ausgewählte Siedlerfamilien hatten auf den 1333 Hektar Neuland Platz gefunden. Ein Erfolg, der propagandistisch ausgeschlachtet wurde. In der Grundsteinurkunde für die Neulandhalle, das Zentrum des neuen nationalsozialistischen Musterdorfs, hieß es: "Im ersten neuen Koog, den das Dritte Reich schuf, soll diese Halle ein Denkmal sein für das erfolgreiche Ringen um Neuland aus dem Meer und um Neuland des Willens und der politischen Erkenntnis."
Um politische Erkenntnis könnte es bald wieder gehen an diesem Ort - um eine ganz andere politische Erkenntnis, die beispielsweise den Bogen schlägt von der Landgewinnung durch Deichbau zur Landgewinnung durch Krieg und Massenmord. Die Person, in der sich diese Verbindung manifestiert, ist bekannt: Hinrich Lohse. 1935 war er Gauleiter und Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein, er hat die Grundsteinurkunde unterzeichnet. 1941 wurde er in Personalunion Chef des Reichskommissariats Ostland. Das bestand aus den damals von den Nazis besetzten Gebieten Lettland, Estland, Litauen und Teilen Weißrusslands. Lohse machte mit bei der Organisation des massenfachen Judenmords in seinem Zuständigkeitsbereich.
Dies wäre ein Thema für eine Neulandhalle, falls sie zum Ausstellungsort wird. Ein Konzept gibt es bereits. Der Kirchenkreis Dithmarschen hat es in Auftrag gegeben und bezahlt. Dessen Propst Andreas Crystall ist selbst Historiker. Dass die Neulandhalle ausgerechnet der Kirche gehört, die unter den Nazis so gelitten hat, ist nur eines von vielen irritierenden Details, die mit dem Gebäude verknüpft sind.
Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft wusste zunächst niemand so recht, was man mit dem Gebäude anfangen sollte. Also wurde es als Gaststätte genutzt. Die große Halle im Erdgeschoss bekam einen rustikalen Schmuck aus Spinnrädern, ausgestopften Vögeln und Geweihen. Die beiden riesigen, martialischen Wächterfiguren an der Außenwand wurden entfernt. An ihre Stellen traten im Jahr 1953 Gedenktafeln für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs. Darauf ist auch vermerkt, wer bei der SS gedient hatte. Offenbar wurde das damals durchaus noch als rühmlich empfunden. Die Tafeln hängen auch heute noch dort.
1971 erwarb der Kirchenkreis die Neulandhalle. "Wir sind vom Landrat gebeten worden", erzählt Propst Crystall. Das Haus wurde zur Jugendfreizeitstätte. "Es war von den Nazis als Antikirche gebaut worden, wir haben sie mit einem anderen Geist gefüllt" - so sieht es der Propst heute. "Es war aber auch eine bequeme Lösung, weil man sich mit dem Kern nicht beschäftigen musste: mit der Ideologie, die hinter diesem Bau steht."
Ende 2010 war Schluss mit den Jugendfreizeiten. Die Zahl der Buchungen war gesunken, die Freizeitstätte machte Verlust. Ein Verlust, den der Kirchenkreis nicht mehr tragen konnte. Seitdem lautet die Frage: Was wird aus der Neulandhalle?
Propst Crystall hat mittlerweile viele Kaufangebote bekommen. Einige klangen harmlos, andere nicht. Ein paar ältere Herren wollten dort eine Senioren-WG aufmachen. Crystall hat alles abgelehnt. "Man weiß ja nie, in welche Hände das Haus kommt", sagt er.
Bald weiß man es vielleicht. Und vielleicht sind es gute Hände. 2011 debattierte der Landtag über ein Gedenkstättenkonzept. Die meisten Redner fanden, dass die Neulandhalle darin einen Platz haben sollte. Eine von ihnen, Anke Spoorendonk (SSW), ist mittlerweile Kulturministerin. Sie hat einen runden Tisch ins Leben gerufen. Und der will beim Bund Projektfördermittel für den "Erinnerungsort Neulandhalle" beantragen.
Der Umbau des Gebäudes soll laut Gutachten drei Millionen Euro kosten. Ob das reicht, ist unklar. Schließlich soll der ursprüngliche Zustand so weit wie möglich wiederhergestellt werden. Die Innenausstattung war durchaus aufwendig. Nach der Einweihung im Jahr 1936 - wiederum war Hinrich Lohse vor Ort, diesmal begleitet von Reichsminister Hjalmar Schacht - setzte ein wahrer Massentourismus ein. NSDAP-Anhänger und ausländische Delegationen nahmen die Halle und das Musterdorf mit Schulgebäude und Gastwirtschaft unter die Lupe.
Nach dem Krieg setzte eine seltsame Trophäenjagd ein. Die Hitlerbüste verschwand, Stühle verschwanden, die Kassette mit der Grundsteinurkunde verschwand, sogar die tonnenschwere Glocke, die vor dem Gebäude in einem hölzernen Turm gehangen hatte, wurde gestohlen.
Von der architektonischen Gleichförmigkeit des NS-Musterdorfes ist heute kaum noch etwas zu erkennen. Die Bauernhäuser haben Anbauten bekommen. Ein Landmaschinenhandel wirbt mit Fahnenmasten. Auf dem Hof des Schulgebäudes, in dem nicht mehr unterrichtet wird, stehen Altglascontainer und ein verwittertes Mondial-Werbeschild.
Hinrich Lohse ist 1964 in seinem Geburtsort bei Itzehoe gestorben. 1951 war er vorzeitig aus der nur drei Jahre währenden Haft freigekommen. Der Adolf-Hitler-Koog hieß da schon Dieksanderkoog. Und auch die Hinrich-Lohse-Straße in Altona, wo Lohse von 1924 bis 1928 Stadtverordneter war, hatte sich längst wieder in die Königstraße zurückverwandelt.