Die Pachtzinsen, gerade in Neuendorf, haben sich mehr als verzehnfacht, viele können sie schon nicht mehr bezahlen. Stralsund verharrt untätig.
Hiddensee/Neuendorf. Wer das Fischerdorf Neuendorf im Süden der Ostseeinsel Hiddensee besucht, fühlt sich in das 17. Jahrhundert zurückversetzt. Weiß gekalkte und mit Reet gedeckte Häuser stehen noch so, wie sie vor Hunderten von Jahren errichtet wurden. Keine Zäune stören den Blick, um die Häuser wächst saftiges Gras. Wann genau seine Vorfahren ihr Haus errichteten, kann der Neuendorfer Bernd Schluck nicht sagen. In vierter Generation, das sei gesichert, lebe seine Familie mindestens hier.
Wie viele Generationen der Schlucks noch hier wohnen werden, vermag der Hiddenseer nicht sagen. „Solange, wie wir die Pacht noch zahlen können“, zuckt der 56-jährige Elektriker mit den Schultern. Die alteingesessenen Neuendorfer fürchten um ihre Zukunft auf der Insel und sie fürchten um die Zukunft des denkmalgeschützten Ortes.
„Es ist wie auf Sylt. Die Einheimischen werden von der Insel gedrängt.“ Der Zorn der Neuendorfer richtet sich gegen die Grundstückspolitik der Hansestadt Stralsund. „Die haben Dollarzeichen in den Augen“, sagt Claas Leschner, Vize-Chef der Interessengemeinschaft „Grundstücksfragen e.V.“ frustriert. Insel-Bürgermeister Thomas Gens spricht von „Raubtierkapitalismus“.
Seit dem 19. Jahrhundert gibt es in dem denkmalgeschützten Neuendorf eine kuriose Immobiliensituation. Sobald der 56-jährige Elektriker Bernd Schluck und die anderen Neuendorfer vor ihre Haustüren treten, stehen sie auf fremdem Eigentum. Mitte des 19. Jahrhunderts verkauften die Mönche des Stralsunder Klosters des Heiligen Geistes die Grundstücke unter den Fundamenten der Häuser und abgelegene „Kartoffelstücke“ an die Einheimischen. Die unmittelbar an die Häuser grenzenden Grundstücke blieben weiter in Besitz des Klosters und gehören heute je hälftig der Stadt Stralsund und der Gemeinde Hiddensee.
Seitdem reiche Berliner und Hamburger die beschauliche Insel als attraktiven sommerlichen Zweitwohnsitz entdeckt haben, schießen nicht nur die Immobilienpreise, sondern auch die Pachtzinsen auf Hiddensee nach oben. Noch nach der Wende zahlten die Hiddenseer für ihre Pachtgrundstücke 26 Cent pro Quadratmeter. Doch inzwischen erhebt Stralsund ein Nutzungsentgelt von 3,25 bis 3,75 Euro pro genutzten Quadratmeter Grundstücksfläche. Begründet wird dies mit einem gerichtlich anerkannten Gutachten, das sich an den inzwischen explodierenden Immobilienpreisen auf der Insel orientiert. Die Stadt - zur Problematik befragt – schweigt. „Die Hansestadt Stralsund befindet sich in laufenden Gerichtsverfahren und wird sich deshalb derzeit zu den Fragen nicht äußern“, sagte ein Stadtsprecher.
Nach Angaben der Hiddenseer hat die Stadt inzwischen 75 Familien verklagt, weil sie sich weigerten, das Nutzungsentgelt zwischen 1000 und 5000 Euro jährlich zu zahlen. „Wir alteingesessenen Hiddenseer sind nicht reich“, sagt Schluck. Das Vermietungsgeschäft auf der Künstlerinsel bestimmten Andere. Zudem gehe der Vermietungszeitraum auf Hiddensee Jahr um Jahr zurück. „Mehr als 80 bis 100 Tage im Jahr sind nicht drin.“
Die Gemeinde Hiddensee will sich nach vielen Jahrzehnten erstmals auf eine gütliche Lösung mit den Neuendorfern einigen, braucht dafür aber die Einwilligung der Stadt Stralsund. „Ältere Neuendorfer leben inzwischen in Existenzangst“, sagt Insel-Bürgermeister Thomas Gens. Die Gemeinde habe eine Fürsorgepflicht gegenüber den Insulanern. “Was auf Sylt schief gegangen ist, muss man auf Hiddensee nicht wiederholen.„
Am 28. August berät erstmals der Hauptausschuss von Stralsund über das von Hiddensee unterbreitete Güteangebot, das einen Pachtzins von 36 Cent vorsieht und zudem den Kauf von einem rund drei Meter breiten Band an den Häusern für 56 Euro je Quadratmeter empfiehlt.
Innenminister Lorenz Caffier (CDU) signalisierte inzwischen Unterstützung. Wenn die Bürgerschaft Stralsund im Ergebnis auf Pachteinnahmen verzichte, würde das Innenministerium diesen konkreten Punkt bei seiner Entscheidung zum Haushalt der Stadt nicht beanstanden, teilte Caffier auf Anfrage mit. Hintergrund: Das Innenministerium entscheidet über den Haushalt als “Ganzes„, nicht aber zu ganz konkreten Einzelpunkten. Auch die Kommunalverfassung sieht Spielraum. Vermögenswerte müssten zwar zu ihrem vollen Werte veräußert werden. Bei einem “besonderen öffentlichen Interesse„ dürfe eine Kommune von der Regel abweichen.
Unterstützung bekommen die Hiddenseer inzwischen sogar von Bundes-Politprominenz. Linken-Fraktionschef Gregor Gysi forderte Stralsund zum Einlenken auf. „Eigenheimbesitzer im Osten sind nicht reich.“ Die Eigentumsverhältnisse auf Hiddensee erinnerten ihn an Störtebekers Zeiten.