Ein Tangstedter hielt Anne H. eine Woche lang gefangen und missbrauchte sie. Als das SEK kam, war der 49-Jährige schon tot.

Bargteheide/Tangstedt. Das weiße Häuschen ganz am Ende eines staubigen Privatwegs duckt sich im Schatten alter Bäume. Niemand verirrt sich aus Versehen hier her. Das Gebell von mehreren Hunden lässt schon von Ferne erkennen: Besucher sind nicht unbedingt willkommen. Eine ältere blonde Frau spricht das dann auch in aller Deutlichkeit aus. Es ist ein Ort am äußersten Rande von Tangstedt. Der Ort, an dem die eine Woche lang vermisste Arzthelferin Anne H. gefangen gehalten und missbraucht worden war, bevor ihr Peiniger sie am vergangenen Sonntag vor dem elterlichen Haus in Bargteheide absetzte (wir berichteten).

Es ist der Ort, der am Mittwochabend zum Schauplatz eines spektakulären Polizeieinsatzes wurde. Nachdem die Kriminalpolizei dem mutmaßlichen Entführer der jungen Frau auf die Schliche gekommen war und bei der Staatsanwaltschaft Lübeck einen Durchsuchungsbefehl erwirkt hatte, stürmten Beamte des Sondereinsatzkommandos (SEK) das Gelände. Sie fanden den 49 Jahre alten Tatverdächtigen im Haus. Er war tot, hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.

Und so hat die Stormarner Kriminalpolizei die Entführung der jungen Bargteheiderin rekonstruiert: Es ist 13.46 Uhr, als Anne H. am 20. Juni an Gleis 6.b in die Regionalbahn nach Bad Oldesloe steigt. Irgendwann auf der Strecke, das finden Ermittler später heraus, schickt sie eine SMS an ihren Ex-Freund in Schwerin. Dann verliert sich ihre Spur. Tagelang suchen Verwandte und Bekannte im Internet mit Fotos nach der Vermissten. Vergebens.

Es dauert für die Familie endlose sieben Tage, bis klar ist: Anne H. lebt. Am Sonntag, 27. Juni – genau eine Woche nach ihrem Verschwinden, wird sie am Haus ihres Vaters in Bargteheide von einem unbekannten Mann abgesetzt. Es ist ein 49-jähriger Mann aus der 6000-Einwohner-Gemeinde Tangstedt zwischen Norderstedt und Duvenstedt. Mehr erfährt die Öffentlichkeit am Donnerstag nicht über den Mann, der die 25-Jährige in der Nähe des Bargteheider Bahnhofs in seinen weißen Lieferwagen zerrt. Er fesselt Anne H., verbindet ihr die Augen. Dann bringt er sie in seinem Transporter in das 15 Kilometer entfernte Tangstedt, sperrt sie in seinem Schlafzimmer ein. Der Mann vergeht sich an seinem wehrlosen Opfer.

Über die Umstände, wie der Sexualverbrecher lebte, womit er sein Geld verdiente, darüber hüllten sich die Polizei und die Lübecker Staatsanwaltschaft am Donnerstag noch in Schweigen.

Wie geht es Anne H. nach den schrecklichen Erlebnissen? Am Montag machte sie ihre Aussagen bei der Polizei. Dann verreiste sie für kurze Zeit mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern an einen unbekannten Ort. „Sie hat unvorstellbar Grausames erleiden müssen, aber sie lebt“, hatte die Mutter Eva H. auf der Internetseite formuliert. Die Nachricht vom Tod Anne H.s Peinigers haben die Eltern mit Erleichterung aufgenommen.

„Wir müssen jetzt keine Angst mehr haben, dass dieser Mann unserer Tochter noch einmal so etwas Schreckliches antun kann“, sagte Mutter Eva H. Eine zweite Begegnung „bleibt ihr erspart“, sagte sie.

Der Tag danach

Die SEK-Männer sind wieder weg. Die Nachmittagssonne brennt auf die Siedlung, in der die Häuser selbst gezimmert aussehen, nicht so teuer und geleckt wie vorn an der Hauptstraße. Vieles erinnert an eine Laubenkolonie. Es ist still. Die Mehrzahl der Häuser ist nur am Wochenende bewohnt.

Bei den Menschen, die am Rande des Waldes ihre Meldeadresse haben, überwiegt eine Mischung aus Skepsis und Neugier. „Das war merkwürdig gestern Abend“, sagt eine Mittdreißigerin, die den Weg vor ihrem Holzzaun kehrt. „Ständig haben Leute bei uns geklingelt und nach der Hausnummer gefragt.“ Sie nennt eine Ziffer, die zu dem Häuschen im Schatten der hohen Bäume gehören soll. Die Frau erzählt weiter: „Da waren Männer, die wie Polizisten aussahen. Sie waren mit Bussen gekommen. Dann der Krankenwagen. Und schließlich dieser silberfarbene Kombi.“ Sie stutzt. „Er sah aus wie ein Leichenwagen. Die beiden Männer, die ihn fuhren, trugen schwarze Hemden. Es war so unheimlich.“ Über den Mann, der das Haus bewohnt, weiß sie eigentlich nichts. Nur seine vielen Hunde – „Dobermänner und so was“ – , die seien ihr unheimlich gewesen.

Ein anderer Nachbar in einem anderen Haus, Alleinlage mitten im Wald. 200 Meter trennen sein Grundstück vom mutmaßlichen Tatort. Auch bei ihm klingelte die Polizei. „Sind Sie der Herr K.?“ Er verneinte. Und er fragt sich seitdem: Wer ist eigentlich dieser Nachbar, der so dicht neben ihm wohnt, für den sich plötzlich alle interessieren und von dem er doch gar nichts weiß? „Man denkt doch, hier muss jeder jeden kennen.“ Der Mann meint, dass der Nachbar allein mit seinen Hunden in dem Haus gelebt habe. „Manchmal ist eine Frauen da gewesen, manchmal waren es auch zwei.“ Andere Siedler berichten, der Mann aus dem weißen Häuschen sei jeden Morgen um sechs Uhr zur Arbeit gefahren. Er habe mit Hunden gearbeitet. „Ein Züchter oder ein Trainer oder so etwas.“

Vor dem weißen Häuschen steht ein weißer Kastenwagen. Seine Größe und seine Farbe entsprechen den Aussagen Anne H.s. Sie hatte bei der Polizei ausgesagt, 200 Meter vom Bargteheider Bahnhof entfernt von einem Unbekannten durch die geöffnete Schiebetür in einen weißen Lieferwagen gezerrt worden zu sein. Der Mann habe sie gefesselt und ihr die Augen verbunden. Der Beginn eines 168-stündigen Martyriums, das im Schlafzimmer des weißen Häuschens im Schatten der hohen Bäume seinen grausamen Lauf nehmen sollte.

Anne H. – nach Einschätzung der Polizei das Zufallsopfer des Täters, der den Ermittlungsbehörden zuvor nicht bekannt gewesen ist. Sie war am Sonntag vor einer Woche mit der Regionalbahn von Hamburg nach Bargteheide gefahren, aber nicht bei ihrem Vater angekommen. Freunde und Familie hatten daraufhin unter anderem einen Suchaufruf im Internet gestartet.