Hamburg. Der Besuch von Georg Kramers Wohnung ähnelt einer Zeitreise. Dort umgibt sich der 85-Jährige gern mit Möbeln von geliebten Menschen.

Anders als angrenzende Straßenzüge in Eilbek wurde die Blumenau von den Bombardements des Zweiten Weltkrieges weitgehend verschont. Viele herrschaftliche Stadtvillen bezeugen hier noch die einstige Pracht des heute dicht besiedelten und von eher trister Nachkriegsarchitektur geprägten Stadtteils.

Baulücken wurden jedoch auch durch schlichte Mehrfamilienhäuser in Rotklinkeroptik oder mit grauweiß verputzter Fassade ersetzt. In einem dieser dreigeschossigen Bauten lebt seit 30 Jahren der Uhrmachermeister Georg Kramer.

Ein weißhaariger Herr mit wachen Augen, die sein Gegenüber eingehend mustern. Man kann sich vorstellen, mit welcher Ruhe und Konzentration mit ihnen am Werktisch die Uhren in ihre Einzelteile zerlegt werden.

Ein Rennen im stilvollen Umfeld

Nach mittlerweile 70 Jahren am Werktisch ist der 85-Jährige nicht nur der wohl dienstälteste Uhrmachermeister der Welt, sondern auch der rasanteste.

Mit dem nach ihm benannten Georg Kramer Cup hat er vor drei Jahren ein Oldtimer-Rennen etabliert, auf dem die Teilnehmer ihre historischen Chronografen – Uhren mit Stoppuhrfunktion – und Oldtimer in einem stilvollen Umfeld zelebrieren können.

Zu Besuch ist auch sein Mitarbeiter Sezgin Yavuz, der gerade die Kaffeetafel deckt. Er hat seinem Meister eine Mousse au Orange zubereitet – dessen Lieblingsnachspeise.

Das Wohnzimmer schickt den Besucher auf eine Zeitreise in die 1960er-Jahre. Die lindgrüne Polstergarnitur mit Fransen ebenso wie der Perserteppich und der runde Tisch mit der Spitzendecke stammen aus dem Nachlass seiner Tante: Sie starb im Alter von 104 Jahren.

Festhalten an Gutem und Bewährtem

Es sind solide, robuste Möbel mit nostalgischem Flair. Man könnte sagen, dass sie mit ihrem Retro-Charme „voll im Trend“ liegen und gerade in dieser Saison vielfach neu interpretiert werden. Selbst die Farbe der Sitzgarnitur (Mintgrün) zählt zu den Favoriten bei den Bezugsstoffen.

Die Sitzgarnitur entspricht schon wieder ganz den Vorstellungen von Anhängern des Retrostils.
Die Sitzgarnitur entspricht schon wieder ganz den Vorstellungen von Anhängern des Retrostils. © Roland Magunia/Hamburger Abendblatt | Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

Das Ensemble charakterisiert in gewisser Weise den Wesenskern des Hausherrn: Georg Kramer lässt sich nicht von flüchtigen, ständig wechselnden Moden beeindrucken. Er bleibt dem Bewährten, und damit sich selbst, treu.

Die Möbel sind bequem, gut erhalten und erinnern an einen geliebten Menschen. Warum sie also wegwerfen? Das gilt auch für den antiken Tisch mit Spiegel im Flur – Geschenk eines verstorbenen Freundes – oder den soliden Holzschreibtisch, der ihn schon sein halbes Leben lang begleitet.

Lieblingsmöbel dank einer Auktion

Zeitlos und hochwertig sind auch die Möbel, die er selbst erworben hat. Der mit dunkelgrünem Leder bezogene Kapitänsstuhl beispielsweise, den er vor sieben Jahren auf einer Auktion erstanden hat, ist sein Lieblingsmöbel, wie er gesteht.

Er lässt sich dabei in die satten Polster gleiten, wippt hin und her und lehnt sich mit einem Lächeln zurück: „Dieser Stuhl ist so viel bequemer, besser verarbeitet und dekorativer als die meisten modernen Bürostühle, auf denen ich schon saß.“

Sein Herz hängt vor allem an zwei antiken Uhren, die erst auf den zweiten Blick ihr reiches Innenleben entfalten: einer Lenzkirch aus dem Schwarzwald von 1920 sowie einer französischen Pedule von 1740 aus Paris, die hinter seinem Schreibtisch im Regal steht.

Die Zeit lässt er für sich spielen

„Beides sind Wunderwerke der Technik und Präzision“, schwärmt Kramer. Die Lenzkirch überwältige ihn täglich vor allem durch ihren Schlag: „Der klingt satt und durchdringend wie der einer Standuhr.“

Sich nicht dem Zeitgeist unterordnen, sondern die Zeit für sich spielen lassen – so wie Georg Kramer mit seinem Mobiliar, wenn auch eher zufällig, heute ganz auf der Höhe der Zeit ist, weil er an ihm aus Überzeugung festhielt, verhält es sich auch mit seinem beruflichen Werdegang: Als Spezialist für historische Chronografen hat er viel Hochkarätiges repariert – von El Premiero über Landeron und Valjoux bis Venus und Cal. 4130.

Auf einer Anrichte im Arbeitszimmer steht diese Borduhr aus einer Junkers einträchtig neben Oldtimermodellen. Foto:
Auf einer Anrichte im Arbeitszimmer steht diese Borduhr aus einer Junkers einträchtig neben Oldtimermodellen. Foto: © Roland Magunia/Hamburger Abendblatt | Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

Und er hat ebenso wie sein einstiger Schweizer Arbeitgeber nie die Reparatur mechanischer Uhren aufgegeben. „Rolex war eine der wenigen Manufakturen, die sich vom Siegeszug der Quartz-Technologie Ende der 60er-Jahre nicht einschüchtern ließen“, freut sich Kramer.

Mit Leidenschaft von jeher gearbeitet

Dieses Festhalten an Bewährtem zahlte sich am Ende für ihn aus: Als mit der Renaissance mechanischer Uhren immer mehr Kunden ihre oftmals ererbten Preziosen reparieren lassen wollten, gab es nur noch wenige Uhrmacher, die ihr Handwerk noch beherrschten.

Als vorausschauend erwies sich zudem, dass Kramer die Werkzeuge vieler Kollegen aufgekauft hatte, die ihre Betriebe schließen mussten oder nur noch als Händler auftraten – zudem hatte er von seinem Uhrmachermeister als junger Mann gelernt, spezielles Werkzeug zu fertigen, um bestimmte Uhren reparieren zu können.

„Wir haben technische Zeichnungen gefertigt und uns mit Leidenschaft in unsere Arbeit vertieft“, erinnert sich der alte Herr. Eine Erfüllung, die er heute jedem jungen Menschen von Herzen wünscht. „Wir hatten damals weder Fernseher noch Internet. Das war vielleicht auch ein Glück.“

Ein Kredit ermöglichte die Selbstständigkeit

Die prägendste Phase seines Lebens erlebte er im „Olymp“ der Uhrmacherzunft: Sein ehemaliger Lehrer an der Berufsschule holte ihn nach Genf zu Rolex, wo er fast fünf Jahre lang als einer von nur sieben Spezialisten die kostbaren Chronografen betuchter Klienten aus aller Welt reparieren durfte.

Vor ihm lag damals auch der Chronograf von US-Präsident Dwight D. Eisenhower. Er setzte sie wieder instand, „mit Ehrfurcht, kühlem Kopf und zitterndem Herzen“, wie Kramer erzählt.

Mit dem Umzug nach Hamburg begann die wichtigste Etappe seines Lebens. Nach der Meisterprüfung an der staatlichen Uhrmacherschule in Altona eröffnete er 1962 sein Geschäft in der Gertigstraße in Winterhude. „Mein Onkel und meine Tante haben mir damals mit einem Kredit die Selbstständigkeit ermöglicht“, erinnert sich Kramer.

Beim Cup Fingerfertigkeit beweisen

Die Arbeit mit Uhren – sie lässt ihn nicht los. Auf dem Schreibtisch wartet so manches gute Stück auf ihn. Für den nächsten Cup muss er zudem eine Uhrenausstellung sowie den Wettbewerb organisieren, der die Teilnehmer auf mehreren Etappen vor diverse Herausforderungen stellt.

Am Ende müssen sie am Uhrmacherwerktisch „eine kleine Aufgabe erfüllen“. Mit dem Rennen hat er sich einen Lebenstraum erfüllt. „Ich kann den Tag kaum erwarten.“

www.georg-kramer-cup.de