Lili Nalovi und Jesko Willert nutzen ihr Zehn-Zimmer-Zuhause in Harvestehude als Atelier. Resultat ist eine ganz eigene Welt

Ein Kaleidoskop verschiedenster Raumszenarien offenbart sich schon beim ersten flüchtigen Blick in die Wohnräume des Künstlerpaares Lili Nalovi, 50, und Jesko Willert, 48: Die in verschiedenen Rottönen gehaltene Sitzecke mit asiatischen Leuchten und Bildmotiven geht über in eine „Arbeitsecke“ mit Staffelei und einem Arbeitstisch für Malerutensilien. Von dort schweift das Auge zum lang gezogenen Esstisch und verfängt sich an einem Schriftzug: „Cinema Paradiso“ über dem Fenster zum Schacht – der verweist auf das hauseigene Kino. „Wir projizieren oft unsere Lieblingsfilme auf die Hauswand und schaffen so ein erweitertes, emotionales Raumempfinden“, sagt Jesko Willert.

Nach einer kurzen Teepause bittet das Paar zum Rundgang durch ihre 300 Quadratmeter große Atelierwohnung in Harvestehude. Der erste Eindruck bestätigt sich mit jedem Blick in eines der zehn Zimmer auf der Belle Etage: Jeder Raum wirkt wie ein sorgfältig inszeniertes, höchst individuelles Gesamtkunstwerk. So gibt es viele „asiatisch“ gestaltete Sitzecken, die das fernöstliche Lebensgefühl durch verschiedene, auch aus Klischees gespeisten Details interpretieren. Sei es durch die dunkle, von Rot- und Brauntönen dominierte Farbgebung der Wände oder durch Motive der Wandbehänge und Kunstwerke. So sitzt ein Vogelpaar vor einem Vollmond auf einem Fantasiebaum, anderswo grüßt ein burmesisches Hochzeitspaar von einem Gemälde über dem Sofa, und im Fenster leuchten chinesische Lampions.

Zwischendrin zu entdecken: Selbstgestaltetes. So zwei von Lili Nalovi gemalte Porträts asiatischer Frauen oder selbst entworfene Tapeten. Das alles gemixt mit Wandbehängen, Gemälden und ausgesuchtem Mobiliar, das stilistisch und farblich auf das Raumkonzept abgestimmt ist. „Vieles kommt vom Flohmarkt, wird aber von uns neu zusammengebaut und bemalt“, erklärt Lili. Konsequent individuell könnte man das Einrichtungsprinzip benennen.

Alles in dieser stilisierten, fast nostalgisch anmutenden Umgebung trägt die individuelle Handschrift des Paares. Einschließlich der selbst gebauten Leuchtkörper. Bei ihnen handelt es sich um ausladende Konstruktionen, deren Schirme aus recycelten, eingefärbten Stoffbahnen bestehen – oder selbst genähten, scheinbar wahllos in ein Metallgestänge montierten Plissé-Schirmchen mit Troddeln, die sich augenzwinkernd an den plüschig-barocken Einrichtungsstil der Gründerzeit anlehnen.

„Die von Lili und Jesko gestalteten Räume erinnern an Filmkulissen“, sagt Marketingexperte Markus Sigrist. Er vermittelt das Paar gerade an Galerien in Los Angeles und New York. „Hier werden in Shows und Ausstellungen bevorzugt kreative Themenwelten statt einzelner Kunstwerke gezeigt. Ich sehe deshalb große Chancen für die beiden.“

Das Künstlerpaar präsentiert sich dabei ebenso fantasievoll und unkonventionell wie seine Umgebung. Lili Nalovi trägt ein mit Rüschen und Spitzen verziertes bodenlanges Kleid, das an die prachtvollen Roben der Belle Epoque erinnert. Über ihrer feuerroten Lockenmähne thront, neckisch nach links gerückt, ein riesiger Zylinder. Jesko Willert trägt eine silberfarbene Jacke, darunter ein gemustertes Hemd und eine extrabreite Krawatte im Stil der 70er-Jahre. In einem konventionell möblierten Ambiente würde alles wie eine Karnevalskostümierung wirken. In dieser Wohnung verschmilzt jedoch alles miteinander. Dabei fertigt Lili Nalovi ihre Garderobe seit früher Jugend selbst an. Ihr Kleid ist ein Mix aus einem Fundstück im Secondhandshop plus einem grünen Unterrock sowie viel eigenwilliger Fantasie. Auch Jesko Willert veredelt seine Garderobe gern eigenhändig – selbst, wenn sich dies auf einen Überzug von Jacken und Schuhen mit Gold- und Silberglanz beschränkt.

Ihre meist gemeinsam konzipierten Kunstwerke bezeugen dabei einen inneren Gleichklang. Nicht zuletzt lebt und arbeitet das Paar seit seiner ersten Begegnung 1990 im legendären Musikclub „Soul Kitchen“ zusammen. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagen beide. Nach ihrem Studium an der Hochschule für bildende Kunst (HfbK) in Hamburg, teilen beide die Liebe zur Malerei. Wer das Paar gemeinsam erlebt, dem drängt sich der Begriff „Seelenverwandtschaft“ auf. Vielleicht auch, weil beide Traumatisches in der Kindheit erlebt haben: Während sie sexuellen Missbrauch erlebte, zudem lange unter einem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter litt, verlor er seinen Vater und seine Schwester bei einem Hausbrand. Beide sprechen offen darüber. „Die Kunst gibt uns ein Ventil, unsere Traumata in konstruktive Energie zu verwandeln“, sagt Jesko Willert. So widmet Lili Nalovi ihrem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter und ihrer Geschichte einen ganzen Raum. „Spurensuche nach dem gebrochenen Kinderherz“ nennt sie diese künstlerische Auseinandersetzung. Jesko Willert hält währenddessen ihre Hand – so als würde er ihren Schmerz auf sich lenken wollen.

Inspiration finden beide auf ihren Reisen. „Unsere Bilder sind gemalte Eindrücke, bei denen wir nur unseren Eingebungen und Neigungen folgen“, sagt Jesko Willert. Ein Beleg dafür ist der Flur, in dem „gemalte Erinnerungen“ vom Boden bis zur Decke zu sehen sind. Darunter auch Straßenszenen und Porträts von Mönchen oder Frauen, denen die beiden bei ihrer Reise durch Asien im Jahr 2006 begegneten. Im Raum nebenan zieht ein wandfüllendes Gemälde von Jesko Willert alle Aufmerksamkeit auf sich: Es zeigt einen burmesischen Fischer auf seinem Boot. Ein Moment totaler Stille, bei dem der Mensch mit der Natur zu verschmelzen scheint. Ein Appell des Künstlers, innezuhalten und sich der Schönheit und Erhabenheit des Augenblicks hinzugeben.

Doch am liebsten arbeitet das Paar zusammen. So wie vor fünf Jahren, als beide ein ehemaliges Krankenhaus in ein Gesamtkunstwerk verwandelte. Oder 2015 auf der Biennale in Venedig, wo sie eine Rauminstallation in dem venezianischen Palazzo Bembo realisierten. In Venedig fand im selben Jahr auch ihre Hochzeit statt: „Wir haben unsere 25-jährige Verlobungszeit beendet, statt Silberhochzeit zu feiern.“

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