Hamburg. Kapitän Jochim Westphalen und seine Frau Greta wohnen ihr Leben lang im Treppenviertel. Für sie findet sich hier das wahre Blankenese.
Heimatkundler haben es gern ganz genau. Doch beim Zählen der Stufen im Blankeneser Treppenviertel kommen auch sie ins Stolpern. Sind es nun knapp 5000 Stufen oder 5400? Man liest beides. Wer sich zu Fuß aufmacht, das Treppenviertel zu erkunden, wird auf jeden Fall schnell feststellen, dass es sehr viele Stufen sind und man schnell aus der Puste kommt.
Das rechtfertigt viele kleine Verschnaufpausen, die man gerne nutzt, die alten, pittoresken Häuschen zu bewundern und die Menschen zu beneiden, die hier wohnen dürfen – auf der anderen Seite aber täglich diese Stufen bewältigen müssen. Mit dem Auto vor die Tür fahren, das geht hier nicht. Da wird der große Einkauf am Sonnabend zur logistischen Herausforderung.
Vorfahren stammen wie seine Frau aus Blankenese
„Tägliche Spaziergänge im Treppenviertel sind gesund und halten fit“, sagt jedoch Jochim Westphalen. Der 78-jährige Kapitän im Ruhestand wohnt sein ganzes Leben lang in diesem Quartier, sieht man von seinen beiden ersten Lebensjahren ab, die er in Brunsbüttel verbracht hat, wo sein Vater als Taucher arbeitete. Doch diese missliche Lücke in seiner Treppenviertel-Biografie kann Westphalen spielend leicht wettmachen: Seine Vorfahren waren nämlich Blankeneser, und alle haben im Treppenviertel gewohnt. Seine Mutter stammt zudem aus dem ältesten Blankeneser Geschlecht, und seine Frau Greta ist eine Breckwoldt – auch eine alte Blankeneser Familie.
Jochim Westphalen wohnt im ältesten Haus des Treppenviertels, wie er stolz betont. Manche Teile sind 500 Jahre alt, und auch die später erfolgte Aufstockung und der Anbau sind weit über 100 Jahre alt. Ursprünglich lebten hier Bauern; oberhalb des Hauses hatten sie auf dem Kahlen Kamp ihre Weiden. Jetzt bewegen sich in den Bäumen des Gartens Mobiles langsam im Wind. Sie sind alle von Westphalen gebastelt. „Eine meiner Leidenschaften“, sagt er.
An einem Mast weht der Wimpel des Blankeneser Segelclubs. Im Yachthafen liegt Westphalens Tuckerboot, mit dem er auf der Elbe herumschippert. „Meine andere Leidenschaft.“
Die Welt des Viertels ist überschaubar
Von der Terrasse aus hat das Ehepaar Westphalen einen Blick über das gesamte Treppenviertel, die Elbe und die Sietas-Werft am anderen Elbufer. Besser kann man nicht wohnen. Die Welt des Treppenviertels ist dabei überschaubar. „Meine Frau ist in dem Haus auf der anderen Straßenseite, ehemals Fischhandlung Julius Breckwoldt aufgewachsen“, erzählt der 78-Jährige. Vom Fenster aus könne er auch das Haus sehen, in dem er aufgewachsen sei. „Dann bin ich mit meinen Eltern zur Süllbergstreppe gezogen, wo das Elternhaus meiner Mutter war.“
Auch wer Westphalen nicht kennt, sieht doch sofort beim Betreten des Hauses seine Leidenschaft für die See und die Schifffahrt. Oft sind Schiffsmodelle oder Bilder von Schiffen zu sehen, darunter auch ein Bilderrahmen, auf dem alle Schiffe abgebildet sind, auf denen er als Seemann gefahren ist. Westfalen zeigt auf das Modell eines Ewers. „SB 61, der gehörte meinem Großvater und seinem Bruder.“
Als Seemann ist Westphalen bis nach Schanghai gekommen, als Kapitän bis ins Mittelmeer – anfangs mit seiner Frau Greta und seiner ältesten Tochter an Bord. Er kennt viele Geschichten aus dem Treppenviertel, und er kennt viele Menschen, die hier wohnen. „Das ganze Viertel ist Nachbarschaft. Wir duzen uns alle hier“, sagt er. „Auch Zugezogene gehören früher oder später dazu. Wir leben alle so dicht aufeinander, da geht das gar nicht anders.“
Früher gab es hier zahlreiche Geschäfte
Kaum gesagt, unterbricht er das Gespräch für einen kurzen Klönschnack mit einer Frau, die mit ihrem Sohn zufällig vorbeigeht. „Sie kommt auch aus einer alten Blankeneser Familie. Ihr Großvater, der alte Sörensen, kam aus Dänemark und hat im Treppenviertel viele der Stützmauern gebaut.“ Wenn der gebürtige Hamburger ins Erzählen kommt, erscheint vor dem inneren Auge des Zuhörers ein Viertel, das es so schon lange nicht mehr gibt.
„In meiner Kindheit hatten wir hier 26 verschiedene Geschäfte und Unternehmen: vom Schuster, Zahnarzt, Gemüsehändler, Fischhändler, mehrere Bäckereien, einen Kohlenhändler, eine Tischlerei bis zum Tabakladen.“ Nach oben, in die Bahnhofsgegend, sei man nur gegangen, wenn man etwas Ausgefallenes brauchte. „Gütermann’s Nähseide für meine Mutter. Die gab es in unserem Weißwarenladen nicht.“ Vieles hat sich seitdem verändert. Vor gut hundert Jahren begannen die ersten wohlhabenden Hamburger, eigene kleine Villen im Treppenviertel zu bauen. Etliche der alten Häuser wechselten den Besitzer. „Die Häuser kosten ein Vermögen“, so Westphalen. „Auch wenn sie nur klein sind und keinen Elbblick haben.“
Auch die Auflagen des Denkmalschutzes würden die Käufer nicht abschrecken. „Wenn man seine Gartenpforte versetzen will, muss man 25 Anträge stellen“, meint Westphalen. „An Anbauen ist gar nicht zu denken.“ Der Reiz, im Treppenviertel zu wohnen, sei dennoch alle finanziellen und körperlichen Mühen beim Treppensteigen wert. Schließlich ist das Viertel das eigentliche Blankenese. „Die Gegend um den Bahnhof und der Kirche war ursprünglich Sülldorf“, erklärt Kapitän Westphalen. Und vielleicht ist sie es für einen eingefleischten Bewohner des Treppenviertel auch heute noch.