Jenseits der Elbe soll kreativ und chic statt teuer gelebt werden. Skeptiker befürchten ein zweites Ottensen.
Hamburg. Regisseur Fatih Akin hat seinen jüngsten Film "Soul Kitchen" einen Heimatfilm genannt. Und der spielt auf der Elbinsel Wilhelmsburg, die von sozialen Umstrukturierungsprozessen ebenso betroffen ist wie das Restaurant im Film. Die Stadt will das Viertel im Rahmen der IBA, der Internationalen Bauausstellung, und im Zuge des Konzepts "Sprung über die Elbe" neu entwickeln.
Wenn alle Projekte der IBA greifen - rund 40 Maßnahmen, die sich von einzelnen Bauwerken über Quartiere bis zu stadtübergreifenden politischen und sozialen Programmen erstrecken, soll aus dem Viertel mit 50 000 Menschen, ein Drittel davon Migranten, ein neuer Stadtteil werden. Und zwar familienfreundlich, ökologisch und bildungsorientiert.
Vor allem soll moderner, nachhaltiger und architektonisch interessanter Wohnraum entstehen. Insgesamt sind 1000 bis 1400 neue Wohneinheiten mit 60 000 bis 90 000 Quadratmeter Wohnfläche im Eigentum und zur Miete geplant. Zusätzliche 600 Wohneinheiten werden saniert. 60 Prozent der neuen Wohnungen entstehen als Geschosswohnungen, 40 Prozent als Einfamilienhäuser. Die neuen Mietwohnungen werden für acht bis zehn Euro pro Quadratmeter angeboten, die Kaufpreise für Eigentumswohnungen und Stadthäuser liegen zwischen knapp 2000 und 2800 Euro pro Quadratmeter.
Durch die Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße entsteht bis 2020 weiteres Flächenpotenzial für 3000 bis 5000 Wohneinheiten, kündigt IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg an. Baustart wird noch in diesem Jahr in der Wilhelmsburger Mitte sein. "Derzeit laufen die Ausschreibungen, die Ergebnisse werden im Februar vorgestellt" so Hellwig. Auf vier Baufeldern am oder sogar auf dem Wasser entstehen die ersten 140 Wohneinheiten, mit 70 und 150 Quadratmeter Wohnfläche. Weitere 107, teils öffentlich geförderte Wohneinheiten werden bis 2013 im Vorhaben "Neue Hamburger Terrassen" gebaut. Für dieses Baugemeinschaftsprojekt hätten sich schon junge Familien vormerken lassen, so die IBA.
180 weitere Wohnungen entstehen am Kaufhauskanal (gr. Foto) im Harburger Binnenhafen, 130 weitere im Wilhelmsburger Hof zwischen Reiherstieg und dem Gelände der Gartenschau. Das Projekt "Open House" mit 42 Wohneinheiten ist bereits vom Markt.
Bei so vielen schönen neuen Projekten wird vielfach eine gewisse Yuppisierung nach dem Muster Ottensen und Schanzenviertel befürchtet. "Wir wollen verändern, ohne zu verdrängen", widerspricht IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg Befürchtungen, dass Wilhelmsburg chic und teuer wird. "Die Bevölkerung soll bessere Lebens- und Umweltbedingungen bekommen. Eine stärkere Durchmischung sei wünschenswert. Für das gründerzeitliche Reiherstiegviertel könne er sich eine ähnliche Entwicklung als kreatives Quartier vorstellen - allerdings ohne die Verdrängungseffekte, da viele Wohnungen in genossenschaftlichem Besitz seien oder der Saga gehörten. So viel kreatives Milieu hat immerhin schon den Oberbaudirektor Jörn Walter dazu veranlasst, den eigenen Umzug an den Spreehafen in Wilhelmsburg zu erwägen.
Als erstes soll in den Veringhöfen im Reiherstiegviertel ein Wohn- und Arbeitsquartier für Künstler und Menschen jenseits der üblichen Qualifikationsmuster entstehen. "Wilhelmsburg braucht bildungsbewusste und aktive Menschen genauso wie etablierte ältere Haushalte. Deswegen müssen wir hier Immobilien anbieten, die die Qualität des Standortes herausarbeiten", sagt Hellweg. Mit Baugemeinschaftsprojekten und preiswerten Wohnungsangeboten sollten junge Leute gewonnen werden. Familien seien bei den Bewerbern derzeit noch unterrepräsentiert. "Die setzen darauf, dass bezüglich der Bildungssituation etwas passiert".
Die Immobilienwirtschaft zählt das südliche Hamburg nach dem Motto "Wassernähe schafft Werte" schon länger zu den Lagen mit Entwicklungspotenzial. Dennoch sieht Peter Uhlenbroock vom Hamburger Grundeigentümerverband nicht die Gefahr eines heuschreckenartigen Einfallens von Investoren. "Das soziale Milieu ist schon aufgrund des zehnjährigen Kündigungsschutzes bei Umwandlung geschützt."
Das Viertel sei durch den Zuzug vieler Studenten bereits szeniger geworden, meint Gottfried Bauer, Geschäftsführer von Engel & Völkers. In den besseren Lagen seien die Mieten für Bestandswohnungen auf 8,50 Euro gestiegen. Dadurch werde automatisch ein anderes Publikum angesprochen, wodurch eine Verschiebung im gewachsenen Kern stattfinde.
Die hochwertigen und dennoch bezahlbaren Wohnformen seien weniger ein Signal an gut verdienende Yuppies oder Künstler als an junge Familien, die sich aufgrund der Stadtnähe für Wilhelmsburg interessierten. "Genau das, was die Stadt braucht um zu wachsen und sich zu verjüngen", meint Joern Olaf Ridder von Grossmann & Berger.
Der Veränderung Grenzen setzt schon die Struktur des Wohnungsangebotes. 44 Prozent der 22 500 Wohnungen auf der Elbinsel sind Sozialwohnungen, 9500 gehören der Saga. Das sei schon ein gewisser Widerspruch zur gewünschten Durchmischung des Viertels, sagt Saga-Chef Lutz Basse. Um mehr Vielfalt zu bekommen, müsse versucht werden, in absehbarer Zeit noch mehr Wohneigentum zu schaffen. Wilhelmsburg verfüge über ein riesiges Reservoir ungenutzter Freiflächen, die zudem in vielen Fällen auch noch am Wasser lägen. Chic oder hip werde Wilhelmsburg auf absehbare Zeit allerdings nicht werden. "Wir sprechen hier über einen Entwicklungszeitraum von mindestens 25 Jahren", sagt Basse.
Im Juni 2009 war Baustart im Weltquartier der Saga. Mit 78 Millionen Euro wird das Musterquartier im südlichen Reiherstieg renoviert. Hier wohnen rund 1700 Menschen aus 30 Herkunftsländern. 750 Wohnungen werden grundlegend saniert, teilweise auch neu errichtet. Maßnahmen, die zu einer Mieterhöhung von 50 Cent auf 5,65 und 5,70 Euro pro Quadratmeter führten.