Meeresforschung: Seit 670 Millionen Jahren schweben sie durchs Wasser. Die ungeliebten Glibbertiere sind Verwandlungskünstler und sogar Forschungsobjekte.

Auch in diesem Sommer gab es wieder Quallen-Plagen - an den Badestränden der spanischen Mittelmeerküste. 11 000 Urlauber wurden in Katalonien verletzt. Die Glibberberge zerreißen Fischernetze, blockieren Kühlwassersysteme, legen Industrieanlagen lahm. Wie aus dem Nichts tauchen sie auf, wenn reichlich Plankton vorhanden ist, von dem sich die Tiere ernähren. "Dann vermehren sie sich explosionsartig", so Dr. Uwe Piatkowski vom Kieler Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (Ifm-Geomar). Denn Quallen gibt es immer, doch sind sie nur im Sommer leicht zu entdecken. Dann gleitet die schwimmende Form der Quallen, die Meduse durchs Wassers. Das ist aber nicht die einzige Form, die etwa die Ohrenquallen annehmen. Zweimal lösen sie die Grundstruktur ihres Körpers auf und organisieren sich neu. Ein Umbau, der fasziniert.

Er beginnt mit befruchteten Eiern. Dabei müssen sich Samen- und Eizellen, die von den männlichen und weiblichen Medusen ins Wasser abgegeben werden, zunächst finden. Sexuelle Fortpflanzung sei bei Quallen recht freudlos, kommentiert Thomas Heeger in seinem Buch "Quallen". Nur bei Würfelquallen hätten Biologen beobachtet, daß Männchen um die Weibchen werben. Sie führen einen Hochzeitstanz auf, wobei sie sich in die Tentakeln der "Angebeteten" verhaken, um ihre Spermienbündel zu übergeben. Doch soviel Aufwand ist wohl eher die Ausnahme.

Aus den befruchteten Eiern schlüpfen kleine Larven, die sich nach einigen Tagen auf Holzpfählen, Bojen oder Steinen niederlassen und fest verankern. Damit beginnt die Entwicklung der seßhaften Form der Qualle, des Polyps. Geformt ist er wie ein Schlauch, Becher oder Trichter. Er wächst in die Höhe. Dann vollzieht sich der wahrlich dramatische Schritt zur freischwimmenden Meduse. Dabei schnürt der Polyp Scheibe für Scheibe ab. Es entstehen völlig neue Wesen, deren Nerven- und Muskelzellen wesentlich komplexer sind. "Medusen können optische, chemische und mechanische Reize wahrnehmen, obwohl sie kein zentrales Nervensystem haben", sagt der Meeresbiologe Uwe Piatkowski. Diese glibbrigen Grazien leben meist nur kurz, maximal zwei Jahre, "während die Polypen nahezu unsterblich sind. Denn manche Polypen bilden noch neue Polypen, bevor sie die Medusen freisetzen."

Allerdings werden nicht bei allen Arten Medusen und Polypen ausgebildet. Es kann sogar eine Generation fehlen oder die Tochter-Medusen und -Polypen lösen sich nicht voneinander. "Dann entsteht ein Tierstock wie bei den Staatsquallen", erläutert Piatkowski. "Sie bestehen aus Hunderten bis Tausenden von Polypen. Die Größe dieser Tieransammlung ist schwer zu schätzen, da sie beim Einfangen mit den Netzen oft zerreißen. Ich habe eine Staatsqualle gesehen, die 18 Meter groß war." Die Einzeltiere des Stocks bleiben ein Leben lang verbunden und sind so vielgestaltig, als seien sie Organe eines einzigen Organismus. So gibt es beispielsweise Freßpolypen, Wehrpolypen, Geschlechtspolypen sowie Schwimmpolypen. Die bekannteste Staatsqualle ist die Portugiesische Galeere.

So unterschiedlich die Entwicklung der Quallen sein kann, eines ist allen echten Quallen gemein: Sie haben Nesselzellen. Kommt es zu einer Berührung platzt die Nesselkapsel auf, der Nesselfaden schleudert sekundenschnell heraus, durchdringt die Körperoberfläche und das in der Kapsel enthaltene Gift gelangt ins Opfer. Ist die Nesselzelle entladen, stirbt sie ab und wird wieder ersetzt. Nesselzellen sind wahre Wunderwerke der Natur.

Genau diesen verdanken die Glibbertiere, die seit 670 Millionen Jahren in den Meeren leben, aber auch den Ruf, sie seien gefährlich. Und für einige Arten trifft das auch durchaus zu, zum Beispiel für die Seewespe oder eben die Portugiesische Galeere. Ein Zusammentreffen mit ihnen kann für den Menschen tödlich enden. Denn ihr Gift ist wirksamer als das der Kobra. Der Tod tritt meist binnen weniger Minuten ein, da der Giftcocktail den Herzmuskel lahmlegt. Allein in Australien sterben mehr Menschen durch Seewespen als durch Hai-Angriffe.

Dagegen ist die Begegnung mit den Feuerquallen in Nord- und Ostsee ungefährlich, obwohl das Gift auch dieser Tiere einen schmerzenden und juckenden Ausschlag hervorruft. Ganz folgenlos für den Menschen bleibt das Zusammentreffen mit den Ohrenquallen. "Die Harpunen, die aus den Nesselzellen sekundenschnell herausgeschleudert werden, können die Haut nicht durchdringen", erläutert Uwe Piatkowski.

Manchmal verfügen auch Rippenquallen, die gar keine Quallen sind, Plattwürmer oder Meeresschnecken über diese hochspezialisierten Verteidigungszellen. Sie klauen sie den Nesseltieren, indem sie diese auffressen und die Nesselzellen vorsichtig in den eigenen Körper einbauen. Bedenkt man, wie leicht sich die Nesselkapseln öffnen, ist das wirklich eine Meisterleistung, die noch unerforscht ist.

Zu erforschen gibt es noch vieles. So beschäftigen sich beispielsweise zwei junge israelische Biotech-Firmen mit den Nesseltieren, um den Mechanismus der Nesselkapseln für die Injektion von Medikamenten zu kopieren, berichtet Dr. Hans-Peter Hanssen, der an der Uni Hamburg Wirkstoffe erforscht. Auch die Giftcocktails der Quallen faszinieren Wissenschaftler.

Zum Forscher können auch die Spaziergänger an Nord- und Ostsee werden. Sie können sich auf die Suche nach den Polypen. Die Mini-Tiere sitzen an Bootsstegen oder Steinen und werden die nächste Generation der grazilen Glibbertiere hervorbringen. Diese klitzekleinen Tiere sind nicht so leicht zu finden, wie die Feuerqualle mit dem 2,30 Meter großen Schirm, die vor vierzig Jahren in Island angespült wurde. Sie wog, so Heeger, soviel wie ein VW Golf.