Hamburg. Bei einem Symposium in Hamburg diskutierten Experten über Kopfverletzungen im Sport – und was zu tun ist, um sie einzudämmen
Der letzte Todesfall ist gerade fünf Tage her. In einem Krankenhaus in Glasgow verstarb der schottische Boxprofi Mike Towell an den schweren Kopfverletzungen, die er am vergangenen Freitagabend bei seiner Knock-out-Niederlage im Weltergewichtsduell mit seinem Landsmann Dale Evans erlitten hatte. Towell, der nur 25 Jahre alt wurde, hatte schon Wochen vor dem Kampf über anhaltende Kopfschmerzen geklagt.
Fälle wie diese sind es, die Andreas Gonschorek alarmieren. Der Chefarzt des Neurotraumatologischen Zentrums am BG Klinikum Hamburg beschäftigt sich seit 18 Jahren mit Schädel-Hirn-Verletzungen. Doch während die medizinischen Erkenntnisse über „unser zentrales Steuerungssystem“, wie Gonschorek das Gehirn nennt, dank MRT (Magnetresonanztomografie) rasant fortgeschritten sind, hat sich die Einstellung gegenüber Verletzungen des Gehirns kaum verändert. „Noch immer werden Gehirnerschütterungen nicht ernst genommen“, sagt Gonschorek.
Um das Bewusstsein für die Gefahren zu schärfen, lud das Concussion Center des BG Klinikums am Mittwochabend zu einer von Sportmoderator Wolfgang Golz fachmännisch geleiteten Podiumsdiskussion ins Haus des Sports am Schlump. Thema: „Hart getroffen – Gehirnerschütterungen im Sport“. Rund 44.000 der 300.000 jährlich in Deutschland aktenkundigen Gehirnerschütterungen treten im Sport auf, „die Dunkelziffer aber“, glaubt Gonschorek, „liegt wesentlich höher.“
Was passieren kann, wenn ein Schädel-Hirn-Trauma unterschätzt wird, wusste Philipp Winter eindrücklich zu schildern. Der 26-Jährige war in der vergangenen Saison als Spieler beim Eishockey-Oberligisten Wedemark Scorpions Opfer eines Ellbogenchecks geworden. „Der Check war nicht spektakulär, aber ich hatte ihn nicht kommen sehen“, sagte Winter. Er sei nicht bewusstlos gewesen, aber wegen starker Benommenheit aus dem Spiel genommen und nach Hause geschickt worden. „Erst ein paar Tage später, als die Beschwerden wie Schwindel und Übelkeit nicht nachließen, bin ich zum Arzt gegangen. Man verordnete mir Schonung, ich sollte nach eigenem Ermessen wieder mit der Belastung beginnen und schauen, wann es wieder gehen würde.“
Es ging gar nicht. Wochenlang quälte sich Winter mit den typischen Symptomen einer Gehirnerschütterung durch den Alltag, Eishockey hat er seit November nicht mehr gespielt. Erst die Untersuchungen am BG Klinikum ergaben, dass er in seiner Karriere schon mehrere Schädel-Hirn-Traumen erlitten hatte, die unentdeckt geblieben waren. Die Diagnose gab ihm immerhin das beruhigende Gefühl zu wissen, was die Beschwerden ausgelöst hatte. Und die Gewissheit, dass Kopfverletzungen in seinem Sport bagatellisiert werden.
Genau darin sehen Ärzte wie Gonschorek das Problem. „Die gesellschaftliche Anerkennung von Verletzungen, die man nicht sieht, ist nicht hoch genug. Wenn Knochen gebrochen oder Bänder gerissen sind, hat das einen anderen Stellenwert, als wenn jemand über Schwindel klagt. Der gilt dann eher als Weichei.“ Dabei läge die größte Gefahr bei Gehirnerschütterungen darin, dass eine Folgeverletzung die bleibenden Schäden drastisch verschlimmern kann. „Deshalb ist das archaische Ritual im Eishockey, sich nach einem erlittenen Check auch noch mit dem Gegner zu prügeln, absoluter Blödsinn und sollte von allen Verantwortlichen geächtet werden“, sagt Gonschorek.
Vollkontaktsport, bei dem menschliche Körper mit hoher Geschwindigkeit ineinanderkrachen, ist für Kopfverletzungen besonders anfällig. In Deutschland betreffen im Eishockey 17,9 Prozent aller Verletzungen den Kopf, im Handball und Fußball sind es 6,2 Prozent. In den USA steht Football mit 5,6 Gehirnerschütterungen pro Team und Saison an der Spitze der Liste. Das Boxen, das Schläge zum Kopf naturgemäß vorsieht, weist dagegen trotz des aktuellen Todesfalls weniger Fälle aus. Das liege zum einen daran, dass die Sportler auf die Abwehr von Kopftreffern trainiert sind und diese, im Gegensatz zu Kollegen in Ballsportarten, nicht unvorbereitet hinnehmen müssen. Zum anderen aber auch an der erkannten Wichtigkeit der Prävention, wie Christian Morales, Sportdirektor des Hamburger Amateurboxverbands, sagte: „Im olympischen Boxen, das vom Profiboxen unterschieden werden muss, wird ein Sportler nach einem K. o. sofort für vier Wochen gesperrt und darf erst wieder ins Training einsteigen, wenn die Leistungsfähigkeit wieder hergestellt ist.“
Dieses Bewusstsein wünschen sich Mediziner für alle Sportarten. Im Fußball sei die Gefahr von Gehirnerschütterungen noch lange nicht allen bewusst, wie das Beispiel des deutschen Nationalspielers Christoph Kramer zeige, der im WM-Finale 2014 nach kurzer Bewusstlosigkeit weiterspielte – und daran keinerlei Erinnerungen mehr hat. „So etwas darf es eigentlich nicht mehr geben“, sagte Helge Riepenhof, der als Teamarzt des italienischen Spitzenclubs AS Rom Einblick in die Materie hat. Während in den USA Kopfbälle im Jugendfußball verboten sind, weil ihre Auswirkungen auf die Nachwuchskicker noch nicht erforscht sind, werde in Europa das Thema als Nebensache abgetan. „In Italien gibt es nur bei Juventus Turin und bei uns regelmäßige Tests“, sagte Riepenhof.
Testverfahren wie die neuropsychologische Baseline-Untersuchung, die das BG Klinikum anbietet, könnten helfen, um Sportlern und Trainern eine Richtlinie an die Hand zu geben, wann Opfer einer Kopfverletzung wieder belastbar sind. Dabei werden einmal im Jahr Parameter wie Reaktionsschnelligkeit und das visuelle Verarbeitungstempo gemessen, die dann im Verletzungsfall abgeglichen werden können. „Hätte ich diese Werte gekannt, wäre ich nicht zu früh zurückgekommen. Ein solcher Leitfaden würde allen Verantwortlichen helfen, mit Gehirnerschütterungen besser umzugehen“, sagte Eishockeyspieler Winter. Verbindlich vorgeschrieben sind diese Tests bislang noch in keiner Sportart in Deutschland. Das Bewusstsein dafür, dass das notwendig wäre, ist am Mittwochabend aber wieder ein gehöriges Stück mehr geschärft worden.