Düsseldorf. Millionen Deutsche leiden an Diabetes. Neue Behandlungsansätze verhelfen Betroffenen zu mehr Lebensqualität.
Jeden Tag erkranken mehr als 700 Menschen in Deutschland neu an Diabetes – das sind 270.000 Neuerkrankungen pro Jahr, die zu den rund sechs Millionen Diabetikern in Deutschland hinzukommen. Diese Zahlen nennt die Deutsche Diabetes-Hilfe vor dem Weltdiabetestag am 14. November.
Für Betroffene und Angehörige ist der Umgang mit der Krankheit eine große Herausforderung. Doch neben ausreichender Bewegung und gesunder Ernährung, um überflüssige Pfunde zu vermeiden oder zu verlieren, gibt es in der Forschung und Behandlung neue Ansätze, wie die Psychodiabetologie, bei der Diabetologen und Psychotherapeuten zusammenarbeiten.
Der Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) ist eine Stoffwechselstörung, bei der die Blutzuckerwerte ständig zu hoch sind. Rund 90 Prozent der Patienten in Deutschland leiden laut der Deutschen Diabetes-Hilfe unter dem Typ 2: Übergewicht und Bewegungsmangel gehören nach Angaben des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung zu den wichtigsten Ursachen. Der Typ-1-Diabetes entwickelt sich aufgrund einer krankhaften Reaktion des Immunsystems meist schon bei Jugendlichen.
Das Risiko einer Depression ist bei Diabetikern doppelt so hoch
Das neue Zauberwort für Diabetologen ist ein Zungenbrecher: SGLT2-Hemmer lautet es. So werden Arzneien bezeichnet, die dafür sorgen, dass Diabetespatienten mehr Zucker ausscheiden. „Die Medikamente blockieren die Zuckeraufnahme in den Nieren und sorgen auf diese Weise dafür, dass Blutdruck sowie Blutzucker sinken und die Patienten drei bis vier Kilo verlieren“, sagt Professor Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf.
Die eigentliche medizinische Sensation offenbart aus seiner Sicht indes eine aktuelle Studie: Sie zeigt, dass bei Patienten, die mit dem SGLT2-Hemmer Empagliflozin behandelt wurden, das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu sterben, um 38 Prozent sank. Diabetespatienten haben ein erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden. Die Ergebnisse der Studie versetzen Experten in Staunen, zumal die 7020 Typ-2-Diabetiker, die an der Studie teilnahmen, zuvor als optimal behandelt galten. Stephan Martin: „Eine wirkliche Erklärung für das Phänomen gibt es nicht.“
Einen Haken hat die Angelegenheit allerdings: „Empagliflozin ist zwar auf dem deutschen Markt, aber die Genehmigungsbehörden haben sich bisher nicht auf einen Preis geeinigt – deshalb besteht die Gefahr, dass das Medikament bald hierzulande nicht mehr erhältlich ist“, erläutert Chefarzt Martin. Er empfiehlt Diabetikern mit bekannten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ihren behandelnden Mediziner darauf anzusprechen.
Auch die psychische Belastung ist für Diabetiker ein Problem – fast die Hälfte der Patienten ist davon betroffen. „Das Risiko für Depressionen ist zweifach erhöht“, sagt Jolanda Schottenfeld-Naor. Die Düsseldorfer Ärztin, die eine diabetologische Schwerpunktpraxis leitet, sieht bei vielen Patienten einen Teufelskreis: „Diabetes kann eine Depression auslösen – Letztere kann jedoch umgekehrt durch erhöhte Stresshormone, eine ungesunde Lebensweise und erhöhte Entzündungswerte einen Diabetes bedingen beziehungsweise verschlimmern.“ Zu dieser Erkenntnis kommt auch die sogenannte Dawn-2-Studie, für die rund 15.000 Menschen mit Diabetes, ihre Familien und Behandler in 17 Ländern auf vier Kontinenten befragt wurden.
„Studien, an denen auch das Deutsche Diabetes-Zentrum beteiligt ist, zeigen, dass es wichtig ist, beide Krankheitsbilder gleichrangig zu behandeln“, sagt Michael Roden, wissenschaftlicher Direktor und Vorstand vom Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ). Wenn dies erfolge, seien die Erfolgsquoten höher, beide Krankheiten in den Griff zu bekommen.
Wichtig sei daher die Früherkennung von Depression bei Diabetes und umgekehrt. Doch das ist für behandelnde Ärzte nicht leicht: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Patienten den Gang zum Psychologen und gar in die Klinik scheuen“, sagt Jolanda Schottenfeld-Naor. Deshalb hat sie jetzt ein Pilotprojekt der sogenannten Psychodiabetologie gestartet, das wissenschaftlich begleitet werden soll: Ärzte und Psychologen der Fachklinik und Universitätsklinik des Landschaftsverbandes Rheinland in Düsseldorf kommen in ihre Praxis und beraten die Patienten dort.
„Ich frage Menschen, bei denen ich den Eindruck habe, dass psychische Probleme eine Rolle spielen – zum Beispiel, weil sie es nicht schaffen, ihren Blutzucker oder ihr Gewicht in den Griff zu bekommen –, ob sie an einem solchen Gespräch bei uns interessiert seien“, sagt Schottenfeld-Naor.
Arzt sollte Möglichkeit psychologischer Unterstützung ansprechen
Erste Erfahrungen zeigen: Manche Patienten brauchen lediglich einen Motivationsschub, bei anderen werden die Gespräche ambulant in der Klinik fortgesetzt, oder sie gehen in eine Tagesklinik und bekommen gegebenenfalls Antidepressiva. Demnächst soll es auch Gruppentherapien geben, „um die psychische Belastung von Diabetespatienten zu verringern und damit die Stoffwechseleinstellung zu verbessern“, sagt Schottenfeld-Naor. Sie empfiehlt Patienten, ihren behandelnden Arzt auf die Möglichkeit psychologischer Unterstützung anzusprechen. In Berlin berät die Berliner Diabetes-Gesellschaft zum Thema.