Berlin . Termindruck, Stress und Angst um den eigenen Job – immer mehr Berufstätige greifen zu Beruhigungspillen oder zu Aufputschmitteln.
Männer wollen eher ihre Leistung steigern, Frauen vor allem ihre Stimmung aufhellen: Die Zahl der Berufstätigen, die Psychopharmaka oder Betablocker schlucken, um erfolgreicher zu sein oder Stress abzubauen, wächst an: Wie eine neue Studie der DAK zeigt, haben knapp drei Millionen Arbeitnehmer im Alter zwischen 20 und 50 Jahren bereits Erfahrungen mit „Doping“ im Job. Der Anteil der sich aufputschenden Beschäftigten stieg binnen sechs Jahren von 4,7 auf 6,7 Prozent. Die Dunkelziffer liegt Fachleuten zufolge fast doppelt so hoch.
Sie schlucken Demenzmittel, um ihr Gedächtnis zu verbessern, sie nehmen Antidepressiva, um Unsicherheit und Überforderung zu bekämpfen – oder sie versuchen, konzentrierter und leistungsfähiger zu sein, indem sie Medikamente einnehmen, die gegen Bluthochdruck oder ADHS helfen: Mehr als zehn Prozent aller Berufstätigen zwischen 20 und 50 Jahren, so schätzen die Studienautoren die Dunkelziffer, hat bereits einmal zu rezeptpflichtigen Medikamenten gegriffen – ohne krank zu sein.
Das scheint zunächst nicht viel. Allerdings stimmt die Entwicklung in den USA, wo sich je nach Studie bis zu 35 Prozent der Beschäftigten dopen, nachdenklich. Falls es gelingen sollte, Medikamente mit leistungssteigender Wirkung zu entwickeln, die weniger Nebenwirkungen und Gesundheitsrisiken aufweisen, könnte sich der Konsum deutlich erhöhen.
Für die Doping-Studie werteten die Forscher Arzneimitteldaten von 2,6 Millionen erwerbstätigen DAK-Versicherten aus und befragten zusätzlich 5000 Berufstätige zwischen 20 und 50 Jahren. Anders als erwartet zeigte sich, dass der Medikamentenmissbrauch nicht etwa bei Hochqualifizierten und Führungskräften besonders groß war: Je unsicherer der Arbeitsplatz und je einfacher und monotoner die Arbeit, desto höher ist offenbar das Risiko für Doping. Auch wer dauernd unter Zeitdruck arbeitet oder im Kundenkontakt ist und deswegen permanent seine Gefühle unter Kontrolle halten muss, greift der Studie zufolge eher zur Stimmungspille als Menschen, die selbstbestimmter arbeiten können. „Das Klischee der dopenden Top-Manager ist damit vom Tisch“, sagte DAK-Chef Herbert Rebscher.
Die Mehrheit der Befragten gab an, die Medikamente per Rezept von ihrem Arzt bekommen zu haben, der Rest hatte die Pillen von Freunden oder Verwandten oder aus dem Internetversand. Viele Ärzte seien bereit, ihren Patienten solche Wünsche in Ausnahmefällen zu erfüllen – etwa vor Prüfungen oder Vorstellungsgesprächen, sagte Studienautor Hans-Dieter Nolting vom Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES).
Am häufigsten greifen Beschäftigte zu Medikamenten gegen Angst, Nervosität und Unruhe (60,6 Prozent) sowie zu Mitteln gegen Depressionen (34 Prozent), um ihre Gedächtnisleistung zu puschen. Etwa jeder Achte schluckt Tabletten gegen starke Tagesmüdigkeit. Mehr als jeder Zehnte erhofft sich von Betablockern, die vom Arzt eigentlich bei Bluthochdruck oder Herzerkrankungen verschrieben werden, Hilfe gegen Stress und Lampenfieber.
Zu den zum „Hirndoping“ eingesetzten Mitteln zählt auch der Wirkstoff Methylphenidat, besser bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin. Methylphenidat wird vor allem zur Behandlung der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verwendet. Gesunde werfen die Pillen ein, um Wachheit und Konzentration zu verbessern.
„Auch wenn Doping im Job in Deutschland noch kein Massenphänomen ist, sind diese Ergebnisse ein Alarmsignal“, sagte DAK-Chef Rebscher.
Experten warnen vor dem Psycho-Doping: Man fühle sich damit vielleicht kurzfristig wacher und fitter, sagte der Psychiater Klaus Lieb. Doch wer langfristig mittels Psycho-Doping über seine Grenzen gehe, laufe Gefahr, ernsthaft zu erkranken. Es gebe „hohe gesundheitliche Risiken wie körperliche Nebenwirkungen bis hin zur Persönlichkeitsveränderung und Abhängigkeit“, erklärte der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz. Es könne zu Herzrhythmusstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen, Nervosität und Schlafstörungen kommen, mögliche Langzeitfolgen seien noch völlig unklar.
Viel sinnvoller sei es, so die Autoren der Studie, den Körper durch Sport, gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf widerstandsfähig zu machen und Stress durch gute Arbeitsorganisation und Entspannungstechniken zu bekämpfen.