Forscher beobachteten, dass einzelne Kegelrobbenbullen sich nicht mehr nur mit Fischen begnügen. Sogar Jungtiere auf dem Speiseplan.
Helgoland/Hamburg. Kegelrobben fressen Fisch, Meeresschnecken, Garnelen. So steht es in Naturführern geschrieben. Doch seit einigen Jahren stehen offenbar vermehrt auch größere Tiere auf den Speiseplan der kräftigen Robben: Biologen haben in Schottland, den Niederlanden und an der deutschen Küste beobachtet, dass einzelne Robbenbullen Jagd auf Schweinswale, Seehunde und sogar Jungtiere der eignen Art machen. Die Forscher stehen vor einem Rätsel.
Auf der Düne vor Helgoland treibt „Schoko“ sein Unwesen. Der sechs bis sieben Jahre alte Kegelrobbenbulle hat ein dunkelbraunes Fell, daher der Name. Die Verwandtschaft ist dunkelgrau gefärbt. Im Juli 2013 wurde Schoko erstmals dabei beobachtet, wie er einen jungen Seehund tötete. Bis zum September des Jahres und auch 2014 schlug die Robbe mehrfach zu und fraß seine Opfer oftmals stark an. „Bislang haben wir die dortigen Kegelrobben friedlich vereint mit Seehunden am Strand liegen sehen. Es war nicht erwartbar, dass Seehunde zur Beute werden“, sagt Klaus Janke, Leiter des Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer.
Janke will die Robben keinesfalls in Sippenhaft nehmen: „Bislang hat man dieses Verhalten nur bei einzelnen Tieren beobachtet. Daraus lässt sich nicht auf die gesamte Population schließen.“ Möglicherweise hat der junge Bulle in seiner Kindheit einen schlechten Umgang gepflegt. Janke: „Das Tier stammt von den Orkney Inseln. Von dort ist bekannt, dass sich Kegelrobben auch mal einen Seehund greifen.“
Wachsende Konkurrenz
Forscher vom Büsumer Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung der Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo) und Kollegen aus Esbjerg untersuchten mehrere Seehundkadaver auf Kegelrobben-Bisswunden – und wurden fündig. Auch ältere Untersuchungen registrierten bereits angefressene Kadaver, doch erst in jüngster Zeit gibt es Videoaufnahmen von Seehundmahlzeiten durch Kegelrobben. Neben dem individuellen Verhalten könne auch die wachsende Konkurrenz in den sich überlappenden Lebensräumen dazu beitragen, dass die Robben der südlichen Nordsee plötzlich andere Meeressäuger wie Seehunde und Schweinswale anfallen, schreiben die Biologen.
Die Seehunde haben sich längst von den Staupe-Epidemien der Jahre 1988 und 2002 erholt – mehr als 39.000 Tiere bevölkern derzeit das gesamte Wattenmeer. Die Kegelrobben waren in der Region rund 400 Jahre komplett verschwunden, bis sie in den 1960er-Jahren allmählich zurückkehrten. Ihr Bestand wuchs auf heute rund 4300 Tiere – auf manchen Sandbänken im Wattenmeer wird es womöglich langsam eng. Und die intensive Befischung könnte die Nahrungskonkurrenz verstärken, mutmaßen die Forscher. Zudem steige mit der zunehmenden Zahl der Robben auch die Wahrscheinlichkeit, selten auftretende Verhaltensmuster von Einzeltieren zu beobachten.
Kegelrobbenbullen können 2,5 Meter lang werden, sie wiegen dann gut 300 Kilogramm. Die Robben gelten als größtes Raubtier Mitteleuropas. Die Helgoländer Düne ist einer von zwei größeren Wurfplätzen im deutschen Wattenmeer, an denen Kegelrobben ihre Jungen zur Welt bringen – der andere ist eine Sandbank vor Amrum. Mitarbeiter des Vereins Jordsand, die die Helgoländer Robben betreuen, warnen Strandspaziergänger regelmäßig, sich den Tieren mit den kräftigen Gebissen nicht zu nähern. Bisher gilt deren Verhältnis zu Menschen jedoch als entspannt. „Im Sommer gehen die Robben mit Urlaubern baden, nähern sich ihnen, knabbern vielleicht einmal an einer Taucherflosse herum“, erzählt Janke. „Diese Zutraulichkeit kenne ich von keinem anderen Ort, an dem Kegelrobben vorkommen – mal abgesehen von Wilhelmine, der halb zahmen Kegelrobbe im Hafen von Hörnum auf Sylt.“
Kegelrobbe attackiert Artgenossen vor der schottischen Ostküste
Schokos Appetit auf Seehunde sei eine große Ausnahme, versichert der Meeresbiologe. Aber auch andere Kegelrobben haben ihr Beutespektrum erweitert. So registrieren Biologen an der niederländischen Küste vermehrt Schweinswal-Kadaver mit Verletzungen, die typisch für einen Raubtierangriff sind: zum einen zickzackförmige Wunden, zum anderen Tiere, die an der Kehle oder an den Wangen attackiert worden sind. Auch hier kommen in Ermangelung von großen Haien nur Kegelrobben als Täter in Frage. Forscher haben angespülte Schweinswal-Kadaver untersucht, die ehrenamtliche Helfer fotografiert oder zur Obduktion eingesammelt hatten. Die Wissenschaftler registrierten zwischen 2005 und 2012 insgesamt 273 Schweinswale mit schweren Bissverletzungen. Deren Anteil lag durchschnittlich bei knapp 15 Prozent aller untersuchten Schweinswale, im Jahr 2012 waren es gut 20 Prozent. Eine weitere Studie mit einer etwas anderen Datenbasis kommt sogar auf einen Anteil von 25 Prozent.
Bei einem Teil der Kadaver analysierten die Biologen den Mageninhalt. Demnach hatten sich die Wale mit den Zickzackwunden vor allem bodennah ernährt, während diejenigen mit den Wunden an Kehlen und Wangen vor allem Heringe im freien Wasser erbeutet hatten. „Die Beziehung zwischen den Angriffswunden und der Ernährung zeigt, dass die Kegelrobben nicht etwa bereits verendete Tiere anfraßen, sondern dass die Schweinswale während des Fressens attackiert wurden“, folgern die Forscher.
Die jüngsten Zeugnisse eines Einzelgängers mit ungewöhnlichem Fressverhalten stammen von der Isle of May, einer Insel an der schottischen Ostküste. Dort attackiert ein Kegelrobbenbulle Artgenossen – Jungtiere, die gerade von ihren Müttern entwöhnt wurden. Anfang Dezember gelang es Forschern, den Bullen zu fangen und mit einem Sender auszustatten. Sie staunten nicht schlecht, als er Mitte Dezember die Nordsee durchquerte und sich wochenlang vor Amrum und Sylt aufhielt.
Schweinswale und junge Kegelrobben sind ungefähr so groß und schwer wie Menschen. Dennoch habe er noch nie davon gehört, dass eine Robbe einen Menschen angegriffen habe, sagt Klaus Janke. Auch Prof. Ursula Siebert von der TiHo, die für das Büsumer Institut über die Untersuchungsergebnisse der Seehundkadaver berichtete, gibt vorsichtig Entwarnung: „Wir haben derzeit keine Erkenntnisse, dass von dem Tier Gefahr für den Menschen ausgeht.“