Jedes dritte Kind kommt in Deutschland durch die Operation zur Welt. Experte mahnt auf eine Rückbesinnung auf die natürliche Geburt. Kaiserschnitt kann offenbar das Risiko für Diabetes Typ 1 erhöhen.
Hamburg. Der Kaiserschnitt hat seinen Schrecken verloren. Fast jedes dritte Kind kam in Deutschland 2013 per Kaiserschnitt zur Welt, vor gut zehn Jahren war es nur jedes fünfte Kind. Deutschland zählt in Europa zu den Ländern mit den höchsten Kaiserschnittsraten. „Dabei sind nur etwa zehn Prozent aller Kaiserschnitte, die ausgeführt werden, medizinisch zwingend geboten“, sagt Dr. Wolf Lütje, Chefarzt der Klinik für Geburtshilfe am Amalie-Sieveking-Krankenhaus in Hamburg-Volksdorf. Hier läuft derzeit eine Ausstellung, in der sich 26 Künstlerinnen mit der brisanten Frage „Ist der Kaiserschnitt ein goldener Schnitt?“ auseinandersetzen.
Nur wenn die Lage des Kindes eine Geburt verhindert, der Mutterkuchen den natürlichen Ausgang versperrt, sich vorzeitig ablöst oder mit der Gebärmutter verwachsen ist, ist ein Kaiserschnitt unausweichlich. „Alle anderen Indikationen sind sehr relativ. In vielen Fällen ist ein Kaiserschnitt nicht nötig“, sagt Lütje, der auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe ist. Er ist davon überzeugt, dass es nicht egal ist, wie wir geboren werden. Neuere Studien geben ihm Recht.
Ein Kaiserschnitt kann demnach das Risiko für Übergewicht und Diabetes Typ 1 erhöhen. Die Studien weisen zudem daraufhin, dass die natürliche Geburt das Immunsystem des Kindes positiv beeinflusst. Kinder nach Spontangeburten leiden beispielsweise etwas weniger unter Asthma oder Allergien. Möglicherweise stärken die mütterlichen Bakterien, mit denen das Kind während seines Weges durch den Geburtskanal in Kontakt kommt, sein Immunsystem. Wolf Lütje vermutet zudem, dass auch die Bindung zwischen Mutter und Kind durch die Geburt stark beeinflusst wird. Schließlich wird ein wahrer Hormoncocktail in der Gebärenden und auch dem Ungeborenen aktiv, der sicherlich nicht nur das Schmerzempfinden verändert. Die psychosozialen Folgen für Mutter und Kind sind aber bislang nicht untersucht, beklagt der Mediziner.
Ihn beunruhigt außerdem, dass vermutlich 50 Prozent der Kaiserschnitte geplant sind. Die Schwangere wird zur Operation, die manche als „Kaisergeburt“ beschönigen, in die Klinik einbestellt – bevor die Wehen überhaupt begonnen haben. „Der Operationstermin liegt häufig vor dem errechneten Geburtstermin. Die Leidtragenden sind die Kinder. Sie werden mit unnötigen Risiken zur Welt geholt. Selbst wenn ein Kaiserschnitt medizinisch absehbar nötig sein sollte, spricht vieles dafür, auf den Beginn der Wehen zu warten“, sagt Lütje. Kinder sollten ihren Geburts-Tag selber bestimmen dürfen. Bei seinen Patientinnen wartet der Mediziner in der Regel den Geburtsbeginn ab, plant nur dann einen Kaiserschnitt, wenn es gar nicht anders geht. „Je später der Schnitt gesetzt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ungeborene auf das Leben vorbereitet ist, dass beispielsweise das Fruchtwasser aus den Lungen entwichen ist, sodass das Neugeborene – auch nach einem Kaiserschnitt – besser Luft holen kann.“
Doch wenn die Geburt nach Plan Risiken mit sich bringt, warum steigt die Kaiserschnittrate? Und warum werden in einigen Städten und Landkreisen 17 Prozent und in anderen 51 Prozent der Kinder mit Kaiserschnitt auf die Welt geholt? Diese Unterschiede benennt eine Studie der Bertelsmann Stiftung, die auf den Informationen der Barmer Ersatzkasse und öffentlich zugänglichen Daten beruht. Kaiserschnitte, so die Autoren des „Faktenchecks Kaiserschnittgeburten“, lassen sich besser in die organisatorischen Abläufe einer Klinik integrieren. Das sei vermutlich der Grund, warum sie häufiger in kleineren Abteilungen und in belegärztlich geführten Abteilungen ausgeführt würden. Diese Beobachtung erklärte zumindest teilweise auch die großen regionalen Unterschiede.
Das wohl überraschendste Ergebnis der Studie ist, dass sich der Anstieg der Kaiserschnittrate kaum mit dem Anstieg der Risikofaktoren begründen lässt. „Weder das höhere Durchschnittsalter der Mütter, noch die Entwicklung des Anteils überschwerer Kinder, der Mehrlingsgeburten, der Frühgeburten oder Wunschkaiserschnitte haben einen gravierenden Einfluss auf den Anstieg der Kaiserschnittrate“, schreiben die Autoren. „Auch eine Zunahme an mütterlichen Erkrankungen wie Adipositas oder Diabetes mellitus liefern nicht die Erklärung.“ Zudem sei die oft geäußerte Vermutung, Kaiserschnitte seien für die Kliniken finanziell interessanter, falsch.
Der Anstieg der Kaiserschnittrate beruhe vielmehr auf einem veränderten Verhalten der Geburtshelfer. Eine „gestiegene Risikoscheue in der Gesellschaft, haftungsrechtliche Entwicklungen und eine abnehmende Erfahrung der Geburtshelfer in der Betreuung komplizierter Geburten führten tendenziell dazu, dass immer öfter die Entscheidung für einen Kaiserschnitt fällt“, stellen die Autoren fest. Dem stimmt Wolf Lütje zu und ergänzt, dass zudem Ängste von Frauen, aber auch von Geburtshelfern die Entscheidung zum Schnitt begünstigen. Er fordert entschieden, umzudenken. Geburtshelfer sollten den Frauen vertrauen und das Vertrauen der Frauen in sich stärken, dass sie diesen natürlichsten aller biologischen Vorgänge meistern werden.
„Wir brauchen eine andere Herangehensweise. Die Kunst der Geburtshilfe hat mit Wissen, Können und Erfahrung zu tun. Sie basiert aber im Wesentlichen auf dem Vertrauen in die Gebärende, auf dem Vertrauen in mich selbst, auf dem offenen Gespräch mit der Gebärenden und den Hebammen und schlicht auf dem Mut, sich der Natur zu stellen. Wenn es wirklich nicht geht, dann machen wir einen Kaiserschnitt, der Mutter und Kind möglichst schont und möglichst viel von dem Erleben einer Geburt mitnimmt.“
Der Kaiserschnitt, so sieht es Lütje, ist der letzte Ausweg ins Leben, die natürliche Geburt der Normalfall. Die Bilder in der Ausstellung regen dazu an, über den Weg ins Leben nachzudenken.
„Kaiserschnitt – Goldener Schnitt?
Bilder rund um die Geburt“,
Ausstellung im Ev. Amalie Sieveking-Krankenhaus,
Hasselkamp 33, 22359 Hamburg.
Bis 25. Februar 2015, täglich 14-17 Uhr, Eintritt frei